10. März 2023

Verzockt – Endspiel Europa

Medienkompetenz statt betreutes Denken


Eine Buchempfehlung: 
Ulrike Guérot, Hauke Ritz, Endspiel Europa
Ein Buch für die Wirklichkeit
Hardcover: Westend ISBN 978-3-86489-390-2
ePub: Westend ISBN 978-3-86489-893-8


Verzockt – das war mein erster Gedanke, als ich am 24. Februar 2022 wie jeden Tag beim kleinen Frühstück am Smartphone die Nachrichten der Leitmedien gesichtet habe. Verzockt hat sich der Westen. Vor einem Jahr mochte man das noch bezweifeln, heute nicht mehr. In den USA, der (noch) führenden Nation des Westens, wird das offen diskutiert, wie man etwa im → American Thinker nachlesen kann. Verzockt haben sich aber auch Europa und ihr (noch) größter Mitgliedstaat Deutschland, wie Ulrike Guérot und Hauke Ritz nachzeichnen.

Als der Ukraine-Krieg am 24.2.2022 in eine neue Phase trat (→ da war er schon acht Jahre alt), war nach zwei Tagen erkennbar, dass die deutschen Leitmedien (von wenigen Ausnahmen abgesehen) unbrauchbar sind. Die Journaille hierzulande fällt auf mit wenig Ahnung und viel Meinung; falls man dort noch Einblick hat, wird er im offenkundigen Bemühen um Einheitsbrei nicht an die Rezipienten weitergegeben. Daher nutze ich für mein Lagebild zum Ukraine-Krieg ganz überwiegend ausländische Quellen, die zum großen Teil in englischer Sprache im Internet verfügbar sind. Ich werde unten eine Auswahl von Quellen auflisten.

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Lagebilder benötigt man, um Gefahren und Risiken einschätzen und Maßnahmen zum eigenen Schutz treffen zu können. Das betrifft jede/n einzelne/n von uns, denn wir alle fragen uns, was dieser Schlamassel für unsere individuelle Zukunft bedeutet – es sei denn, man steckt den Kopf in den Sand. Aber aus welchen Quellen soll das Lagebild erstellt werden?

Je stärker ein Konflikt sich zuspitzt, desto einseitiger wird die Medienlandschaft. Bei militärischen Konflikten ist das unvermeidlich so, dies auf allen Seiten – keine beteiligte Seite sagt oder schreibt "die Wahrheit". Die Frage ist eher, wessen Propaganda näher an der Wirklichkeit dran ist oder (umgekehrt) fließend in Wunschdenken übergeht.

"Wahrheit gibt es nur zu zweien." (Hannah Ahrendt)

Es ist nicht möglich, Interessenkonflikte nur aus der Perspektive einer beteiligten Seite zu lösen oder einer Lösung wenigstens näher zu kommen. Man muss umfassende Lagebilder erstellen und dazu Quellen von allen beteiligten Seiten sichten und bewerten. Wer sein Lagebild nur auf der Basis eigener Quellen oder Quellen der eigenen Seite erstellt, erhöht das Risiko, am Ende die eigene Propaganda für die Wirklichkeit zu halten – die Strafe folgt als Fehleinschätzung und dann als eigene Niederlage.

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Cover "Endspiel Europa"
Ulrike Guérot und Hauke Ritz zeigen in ihrem Buch, wie der Ukraine-Krieg in untrennbarem Zusammenhang mit der Rolle der USA als "Weltpolizei" und mit dem Scheitern der Europäischen Union steht. Für ihre komprimierte Darstellung gliedern die beiden Autoren die beim Erscheinen des Buches (Herbst 2022) drei Jahrzehnte seit Gründung der EU (1992) in drei Teile, einen für jedes Jahrzehnt, und skizzieren für jeden dieser Zeitabschnitte die wesentliche Entwicklung unter geopolitischen Vorzeichen.

Im Zentrum des ersten Jahrzehnts (Up Hill, 1990-er Jahre) stehen ein Irrtum, etwa der vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) – eine Steilvorlage für die ahistorische Betrachtung des Ukraine-Krieges, und zwei Träume (Les grandes projet européen), der von der Ever closer Union (immer engere Europäische Union) und der von einer kontinentalen föderalen Friedensordnung. Für einige Jahre bestimmen diese Träume das Geschehen auf dem diplomatischen Parkett.

Aber schon der → völkerrechtswidrige Jugoslawien-Krieg 1999 leitet das nachfolgende zweite Jahrzehnt (2000-er Jahre) ein, in dem die Träume platzen, unter anderem mit den Problemen der Euro-Zone, dem Irak-Krieg 2003, dem Scheitern der EU-Verfassung 2005 bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, der neokonservativen Wende in den USA und ihrem Einfluss auf Europa, dem Steigern der medialen Feindseligkeiten gegen Russland. Geblieben sind der ungeliebte Euro und eine seelenlos anmutende Bürokratie in Brüssel.

Im dritten Jahrzehnt schließlich (2010-er Jahre) erfolgt der Abstieg Europas (Down Hill), beginnend mit der Bankenkrise. Auf dem Weg des Scheiterns liegen Austeritätspolitik, die Spaltung Europas in Nord und Süd, linker Populismus im Süden und rechter im Norden, Flüchtlingskrise ab 2015, Brexit ab 2016, Regionalismus in Schottland und Katalonien, soziale Spaltung quer durch Europa, autoritäre statt abwägende Corona-Politik. Und schließlich wieder ein heißer Krieg, der Europa und Europäische Union in jeder Hinsicht zurück wirft. Wie ein Finale (Endspiel), mit der möglichen Folge der Relegation in die zweite Liga.

Es handelt sich bei "Endspiel Europa" um einen Essay, also einen Versuch, verstanden als Vermählung der Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit (Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, 1958). Als gelungen, nämlich ins Schwarze treffend, erscheinen die genannten drei Hauptteile des Buches, die die dreißigjährige Entwicklung des Projektes Europäische Union (EU) und ihre Einordnung in den geopolitischen Bezugsrahmen nachvollziehbar zusammenfassen – manche Etappe habe ich aus der Perspektive meines Berufslebens der letzten dreißig Jahre ähnlich erlebt. Weniger überzeugend ist der vierte Teil mit den Betrachtungen der Autoren "Zum Schluss: Falls Europa erwacht – wie wieder von Europa träumen?" Hier wird die Vorliebe der Verfasser für ein neues Verständnis von Souveränität deutlich, in deren Zentrum die Ablösung des etablierten Zuordnungsgemeinschaften Nation und Staat durch einen europäischen Staat mit föderaler Ordnung steht. Angesichts der im Westen und in Europa unübersehbaren Interessengegensätze, die teilweise den Charakter von Feindseligkeiten haben und angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges zunehmen werden, scheint mir, die Europäer sollten besser kleinere Brötchen backen und sich Diplomatie und Völkerverständigung im Rahmen der gegebenen Entität ihrer Nationalstaaten zuwenden, anstatt erneut Luftschlösser zu bauen. Es spricht nur das Prinzip Hoffnung dafür, als Gliedstaat einer Föderation Interessenkonflikte lösen zu können, wenn man es als Nationalstaat kaum schafft. Dennoch ist der Essay eine Bereicherung für Zeitgenossen, denen das betreute Denken nicht liegt. Der Blick lohnt übrigens auch in die zahlreichen Quellenangaben, von denen ich mir viele bereits im Laufe der zurückliegenden zwölf Monate erschlossen habe.

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Hier nun eine Auswahl von Quellen zum Ukraine-Krieg. Es ergeben sich Einsichten, die dem Erzählstrang der hiesigen Leitmedien deutlich entgegenstehen:

  • Jeder Konflikt hat eine Vorgeschichte, auch der Ukraine-Krieg. Dazu gehören der deutsche Nationalsozialismus und der 2. Weltkrieg mit der → Nachkriegsordnung, die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 und das Ende der Sowjetunion 1991 und damit das Ende der bipolaren Welt (was eben nicht das Ende der Geschichte ist), der Maidan 2014 in der Ukraine.
  • Der Ukraine-Krieg ist vordergründig ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine und hintergründig ein Krieg zwischen den USA und der Russischen Föderation. 
  • Es geht um die geopolitische Klärung, welche Rolle die USA künftig in einer veränderten Welt spielen werden, nachdem das US-Imperium seinen Zenit überschritten hat.
  • Kernthemen sind:
    • Bretton Woods, der Dollar als Vertrauenssache und die Folgen von alten und neuen Sanktionen,
    • Bedrohung des → Völkerrechts durch eine rules-based world order, die als Spielregel erscheint, deren Fassung im Belieben eines Spielers steht,
    • unipolare oder multipolare Weltordnung – mit Trend zu Letzterem.

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