14. Oktober 2023

Umbenennung: Naher Osten ist jetzt Nahes Fiasko

Naher Osten bezeichnet die Region Vorderasiens, insbesondere die historische Region → Palästina einschließlich des heutigen Israel. Bilder und Meldungen zur Gewalteskalation der Hamas am 7. Oktober und der → fehlgeleiteten Reaktionen des Staates Israel zertrümmern jeden Gedanken an einen begrenzten Konflikt. Das Bild eines grenzenlosen nahen Fiasko kommt auf. 

Etwa so, wie es → Nina Paley schon 2012 in der Szene This Land Is Mine ihres 2018 erschienenen → Seder-Masochism gezeichnet hat.



Wer tritt auf? Der → Leitfaden für Zuschauer nennt frühe Menschen, Kanaaniter, Ägypter, Assyrer, Israeliten, Babylonier, Mazedonier, Griechen, Ptolemäer, Seleukiden, Makkabäer, Römer, Byzantiner, arabische Kalifen, Kreuzritter, Mameluken, Ottomanen, Araber, Briten, Palästinenser, europäische Juden/Zionisten, PLO/Hamas/Hisbollah, der Staat Israel, Freiheitskämpfer/Guerillas/Terroristen und schließlich der Engel des Todes. Unerwähnt bleiben US-Amerikaner, die allerdings kaum die Szene betreten, sondern Regie führen auf ihrem Brückenkopf im Nahen Osten, der für sie die Funktion eines unsinkbaren Flugzeugträgers hat – so unsinkbar wie die Titanic.

Deshalb nenne ich Naher Osten jetzt Nahes Fiasko.


23. September 2023

Mein Bild von Lychen (Drei Ansichten)

Lychen, Luftkurort und Flößerstadt, ist nur elf Jahre jünger als Berlin und feiert 2023 den 775. Jahrestag seiner ersten urkundlichen Erwähnung. Die → Galerie KUNSTplatz zeigt deshalb im Herbst die Ausstellung "Mein Bild von Lychen" mit Zeichnungen, Fotografien, Gemälden und Bildern, die persönliche Bilder von Lychen sind. Ich habe den Aufruf zum Einreichen von Bildern zu spät gesehen und zeige drei meiner Ansichten hier:


Antiquariat
Die Tür geht auch richtig auf



Sowjetischer Ehrenfriedhof Hohenlychen
ВСТАНЕМ
(Lasst uns aufstehen)



Simson
Tradition und Alltag



1. Juli 2023

Das große Sterben – Karls Kriegsbrief, ein Bildband und Diplomatie in Not


Als ich geboren wurde, war der Zweite Weltkrieg fünfzehn Jahre vorbei. In meiner Kindheit gab es auf den Straßen Berlins immer wieder Kriegsversehrte zu sehen, am auffälligsten erschienen mir die an ihren Gliedmaßen Amputierten.

In meiner Familie bin ich meines Wissens der erste Jurist, der Jura (um von Rechtswissenschaft nicht zu reden) nicht nur studiert hat, sondern damit auch durchs Leben geht. Zuvor, vor dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg, hatten zwei Angehörige meiner Familie mit dem Jurastudium begonnen, es aber wegen Teilnahme am Krieg nicht fortgeführt. Aus der wohl so gedachten Unterbrechung des Studiums wurde ein unwiderruflicher Abbruch. Mein Großonkel Karl Gorzel (1895 - 1918) hat die Teilnahme am Ersten Weltkrieg nicht überlebt. Mein Onkel Hans Gorzel (Jahrg. 1920) war von den im Zweiten Weltkrieg erlittenen Verwundungen für den Rest seines Lebens gezeichnet, leiblich und seelisch.


Karl Gorzel – Kriegsbrief (Erster Weltkrieg)

Von meinem Großonkel Karl kenne ich keine Fotos, nur eine Ikone, die seine drei Jahre jüngere Schwester Amalie in meiner Erinnerung hinterlassen hat – sie besteht aus einer begeisterten Beschreibung des Abiturienten Karl auf einem Schimmel bei einer Parade seines gymnasialen Abschlussjahrgangs.

Cover "Kriegsbriefe gefallener Studenten"
Karls Schwester, meine Großtante Amalie (Jahrg. 1898), war Lehrerin. Mein Bild von ihr ist geprägt von braunen Agitationsversuchen – in den 1970er Jahren betonte sie meine guten Erbanlagen (was für sich betrachtet als unverfänglich gelten könnte), diente mir mehrfach Ausgaben der faschistischen → National-Zeitung an, ferner eine Broschüre "Verbrechen an Deutschen", und leistete sich die als Selbstentnazifizierung anmutende Behauptung, "bei den Nazis auf der schwarzen Liste" gestanden zu haben, weil sie sich in der Lehrerkonferenz das Rauchen verbeten habe. 1945 war jeder fünfte erwachsene Deutsche eines von → 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern – in nahezu jeder Familie dürften Nazis gewesen sein.

Aus dem Nachlass meiner Großtante Amalie ist mir ein Buch zugegangen, in dem ein Brief meines Großonkels Karl abgedruckt ist, sein Kriegsbrief vom 1. Oktober 1916. Bei dem Buch handelt es sich um die Kriegsbriefe gefallener Studenten, herausgegeben von Prof. Dr. Philipp Witkop mit einem Vorwort zur "Volksausgabe" von 1933, 186. bis 190. Tausend, alles in Fraktur. Es ist seit 2016 im Netz verfügbar unter dem Titel → Auf den Tag genau vor 100 Jahren. Kriegsbriefe gefallener Studenten. Dort hat Leander Salden die von Witkop herausgegebenen Kriegsbriefe nebst Vorwort des Herausgebers vollständig und lesefreundlich bereitgestellt, versehen mit einem sehr umfangreichen und sehr lesenswerten eigenen → Vorwort. Die Webseite steht unter der Motto:

"Der Kaiser rief – und Alle, Alle kamen!" (um!)

Leander Salden schreibt:

Nach 100 Jahren sollte man sich auch eingestehen dürfen, dass die Tragödie des Ersten Weltkriegs nicht darin lag, dass er "ausbrach", sondern dass er nur so strotzte vor Gelegenheiten, ihn vorzeitig zu beenden, was jedoch ausblieb, weil man nicht länger nach dem Prinzip von Carl von Clausewitz (1780 – 1831) handelte, wonach der Krieg nur eine Fortsetzung der Diplomatie mit besonderen Mitteln ist, DIE GEÄNDERT WERDEN MUSS, SOBALD SIE IHREN SINN VERLOREN HAT.
In Gedenken an die noch sinnloseren Opfer nach dem 12. September 1914 … lasse ich diesen Blog mit jenen Feldpostbriefen beginnen, die nach diesem Datum … geschrieben worden sind. Als sich die erste und beste Gelegenheit bot für einen Kriegsabbruch. Als Millionen Studenten wieder zur Uni hätten gehen können und Abermillionen von Menschen wieder zur ihren Höfen, zu ihrer Ernte, ihrer Arbeit, zu ihren Familien, Freunden, überall hin … nur nicht in diese "Knochenmühle".
Wie sich die Bilder gleichen:
links: Verdun 1916; rechts: Bachmut 2022

Zurück zum Buch mit seinem vergilbten und brüchig gewordenen Papier. Im Einband vorne finden sich zwei handschriftliche Widmungen, beide in Sütterlin:

Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.
Grethe

Zum Kriegsweihnachten 1942 sei dies Buch dir, meine liebe Mally, eine tiefe Freude!
Deine Grethe

Beide Widmungen stammen von einer unbekannten Grethe. Die erste spiegelt das völkische Motto → "Du bist nichts, dein Volk ist alles" wider, die zweite wünscht zu Weihnachten "tiefe Freude" nicht etwa mit der Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments, sondern mit der Lektüre von Kriegsbriefen gefallener Soldaten des vorangegangen sinnlosen Weltkrieges. Lebensbejahender Humanismus ist beides nicht.

Ferner findet sich im Buch an der aufgeklappten Seite von Karls Kriegsbrief ein 1970 entstandenes, nach gut fünfzig Jahren etwas verblasstes Foto seines Grabes auf dem → Soldatenfriedhof bei Neuville-St. Vaast (Arras). Mehr als fünf Jahrzehnte nach seinem sinnlosen Tod konnte Amalie das Einzelgrab 20111 ihres nur zweiundzwanzig Jahre alt gewordenen Bruders besuchen; mehr als dies, den veröffentlichten Kriegsbrief und persönliche Erinnerungen hatte sie wohl nicht von ihm.

Leutnant Karl Gorzel, Grabstelle 20111, Soldatenfriedhof Neuville-St. Vaast

Nun zu → Karls Kriegsbrief: Er beginnt mit dem Hinweis auf die wie ein schwerer Traum hinter ihm liegende "böse Thiepval-Affäre". Mit Affäre ist kein Skandal gemeint, sondern ein Gefecht. Karl schildert dann Eindrücke von der Schlacht an der Somme und meint mit der bösen Thiepval-Affäre das → Gemetzel vor Thiepval, bei dem die britische Armee horrende Verluste erlitt. Karl und seine Kameraden haben Hindenburg gesehen und ihm zugejubelt, sein Anblick fuhr ihnen "wie Feuer durch die Glieder und erfüllte uns mit starkem Mut. Wir sollten ihn auch nötig haben." In der nachfolgenden Schilderung des Stellungskrieges werden die Hölle des Artilleriebeschusses und das nervenaufreibende Warten auf den Angriff der gegnerischen Infanterie beschrieben, der bis zum "Bajonettkampf Mann gegen Mann" reicht. Der im Publikum verbreitete Hurra-Patriotismus aus den ersten Kriegstagen gerinnt dem Soldaten an der Front zum einfachen Überlebenswillen: "Das Feuer nimmt wieder zu, es schmerzt der Kopf, es brennen die Lippen. Nun liegt alles in Gottes Hand. Nur der eine Gedanke ist in jedem Hirn: lebend bekommen sie uns nicht!" Der Brief endet ernüchternd: "Ein neuer Tag bricht an, schrecklicher noch als der alte. Das ist die Schlacht an der Somme, das blutige Ringen um Deutschlands Sieg – diese acht Tage bilden das Höchstmaß dessen, was der Mensch ertragen kann; es war die Hölle."


Hans Gorzel – Bilder im Kopf (Zweiter Weltkrieg)

Mein Onkel Hans hatte 1939 mit dem Jurastudium begonnen, war aber gleich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges in die Wehrmacht eingetreten und ab 1941 an der Ostfront. Er hat den Krieg in Osteuropa, der ein deutscher Angriffskrieg gegen die damalige Sowjetunion und ein Vernichtungskrieg gegen Juden und Slawen war, nicht unbeschadet überlebt. In meiner Jugendzeit in den 1970er Jahren war er bemüht, uns Nachwachsende von den Folgen der psychischen und physischen Kriegsversehrtheit zu verschonen.

Cover "Der zweite Weltkrieg - Bilder, Daten, Dokumente"In jener Zeit schenkte er mir einen dicken Bildband, der auch umfangreiche Texte zum militärischen Verlauf des Zweiten Weltkriegs nebst kartografischen Darstellungen der Frontbewegungen enthielt: → Der 2. Weltkrieg: Bilder, Daten, Dokumente, erschienen 1968. Ich besitze das dicke, großformatige und schwere Buch nicht mehr, erinnere aber Folgendes:

Onkel Hans hatte das Buch seinerseits als Geschenk erhalten, mochte es aber nicht behalten. Er hatte das Elend des Krieges an der Front sechs Jahre lang selbst (üb)erlebt und und auch 30 Jahre nach dem Krieg keinen Bedarf an dem Bildband – er hatte genug Bilder im Kopf. Für die Weitergabe an mich hatte er im Einband eine Widmung notiert. Sie lautete sinngemäß, dass jeder Krieg Tod und unendlichen Kummer über zahllose Familien aller beteiligten Völker bringt und mir dies eine Mahnung sein möge. Ich habe den Bildband in jenen Jahren immer wieder stundenlang besichtigt, um die Dimensionen der Gewalt im Holocaust gegen Juden und im deutschen Vernichtungskrieg gegen Slawen zu erfassen.


Schlachtfeld Ukraine – Diplomatie oder Dritter Weltkrieg?

Ich wüsste gerne, was Onkel Hans davon hält, dass im Jahr 2023 wieder deutsche Panzer im Osten Europas gegen Russen zum Einsatz kommen. Fragen kann ich ihn nicht mehr. Fragen kann man nur die Lebenden.

Ukraine bedeutet etymologisch "am Rand" oder "Grenzland" – was seine Erklärung darin findet, dass sich auf ukrainischem Boden die verschiedenen europäischen Kulturkreise im Laufe der Geschichte durch weitgehend fehlende natürliche Grenzen überschnitten haben. Die Ukraine hat in ihrer Geschichte, ihrer Kultur und in ihrem Charakter als Vielvölkerstaat → viele Elemente aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa in sich aufgenommen. Das birgt Potentiale, etwa als Brücke zwischen dem mittleren und dem östlichen Europa. Es birgt aber auch Risiken durch Instrumentalisierung von Unterschieden im Vielvölkerstaat, leider realisiert durch → verblendete Transatlantiker, deren Bedürfnis nach Ausschaltung systemischer Rivalen zum → Griff in die russophobe Mottenkiste geführt hat. Das ist nicht neu, sondern drückt sich schon im Leitsatz des ersten Generalsekretärs der NATO, Lord Ismay, aus, der auf die Frage nach der Funktion der NATO gesagt haben soll: → "To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down".

Als Jurist, der die Grenzen des Rechts und des Völkerrechts kennt, weiß ich: Der → Standpunkt, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist, hat mangels Durchsetzbarkeit nur Bedeutung für das eigene Weltbild im eigenen Teil der Welt. Die nahe Zukunft wird zeigen, ob der Westen den Weg findet zur Diplomatie anstelle des aussichtslosen Versuchs, das Schicksal der Ukraine → "auf dem Schlachtfeld" zu entscheiden, bis hin zum atomaren Schlagabtausch des dann Dritten Weltkriegs.


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Nachtrag (6. Juli 2023):

Der oben (bei "verblendete Transatlantiker") verlinkte englische Artikel von John J. Mearsheimer ist am 3. und 4. Juli auf Deutsch in zwei Teilen im Cicero veröffentlich worden:
 → John Mearsheimer: Die Dunkelheit vor uns, Teil 1
 → John Mearsheimer: Die Dunkelheit vor uns, Teil 2


10. März 2023

Verzockt – Endspiel Europa

Medienkompetenz statt betreutes Denken


Eine Buchempfehlung: 
Ulrike Guérot, Hauke Ritz, Endspiel Europa
Ein Buch für die Wirklichkeit
Hardcover: Westend ISBN 978-3-86489-390-2
ePub: Westend ISBN 978-3-86489-893-8


Verzockt – das war mein erster Gedanke, als ich am 24. Februar 2022 wie jeden Tag beim kleinen Frühstück am Smartphone die Nachrichten der Leitmedien gesichtet habe. Verzockt hat sich der Westen. Vor einem Jahr mochte man das noch bezweifeln, heute nicht mehr. In den USA, der (noch) führenden Nation des Westens, wird das offen diskutiert, wie man etwa im → American Thinker nachlesen kann. Verzockt haben sich aber auch Europa und ihr (noch) größter Mitgliedstaat Deutschland, wie Ulrike Guérot und Hauke Ritz nachzeichnen.

Als der Ukraine-Krieg am 24.2.2022 in eine neue Phase trat (→ da war er schon acht Jahre alt), war nach zwei Tagen erkennbar, dass die deutschen Leitmedien (von wenigen Ausnahmen abgesehen) unbrauchbar sind. Die Journaille hierzulande fällt auf mit wenig Ahnung und viel Meinung; falls man dort noch Einblick hat, wird er im offenkundigen Bemühen um Einheitsbrei nicht an die Rezipienten weitergegeben. Daher nutze ich für mein Lagebild zum Ukraine-Krieg ganz überwiegend ausländische Quellen, die zum großen Teil in englischer Sprache im Internet verfügbar sind. Ich werde unten eine Auswahl von Quellen auflisten.

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Lagebilder benötigt man, um Gefahren und Risiken einschätzen und Maßnahmen zum eigenen Schutz treffen zu können. Das betrifft jede/n einzelne/n von uns, denn wir alle fragen uns, was dieser Schlamassel für unsere individuelle Zukunft bedeutet – es sei denn, man steckt den Kopf in den Sand. Aber aus welchen Quellen soll das Lagebild erstellt werden?

Je stärker ein Konflikt sich zuspitzt, desto einseitiger wird die Medienlandschaft. Bei militärischen Konflikten ist das unvermeidlich so, dies auf allen Seiten – keine beteiligte Seite sagt oder schreibt "die Wahrheit". Die Frage ist eher, wessen Propaganda näher an der Wirklichkeit dran ist oder (umgekehrt) fließend in Wunschdenken übergeht.

"Wahrheit gibt es nur zu zweien." (Hannah Ahrendt)

Es ist nicht möglich, Interessenkonflikte nur aus der Perspektive einer beteiligten Seite zu lösen oder einer Lösung wenigstens näher zu kommen. Man muss umfassende Lagebilder erstellen und dazu Quellen von allen beteiligten Seiten sichten und bewerten. Wer sein Lagebild nur auf der Basis eigener Quellen oder Quellen der eigenen Seite erstellt, erhöht das Risiko, am Ende die eigene Propaganda für die Wirklichkeit zu halten – die Strafe folgt als Fehleinschätzung und dann als eigene Niederlage.

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Cover "Endspiel Europa"
Ulrike Guérot und Hauke Ritz zeigen in ihrem Buch, wie der Ukraine-Krieg in untrennbarem Zusammenhang mit der Rolle der USA als "Weltpolizei" und mit dem Scheitern der Europäischen Union steht. Für ihre komprimierte Darstellung gliedern die beiden Autoren die beim Erscheinen des Buches (Herbst 2022) drei Jahrzehnte seit Gründung der EU (1992) in drei Teile, einen für jedes Jahrzehnt, und skizzieren für jeden dieser Zeitabschnitte die wesentliche Entwicklung unter geopolitischen Vorzeichen.

Im Zentrum des ersten Jahrzehnts (Up Hill, 1990-er Jahre) stehen ein Irrtum, etwa der vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) – eine Steilvorlage für die ahistorische Betrachtung des Ukraine-Krieges, und zwei Träume (Les grandes projet européen), der von der Ever closer Union (immer engere Europäische Union) und der von einer kontinentalen föderalen Friedensordnung. Für einige Jahre bestimmen diese Träume das Geschehen auf dem diplomatischen Parkett.

Aber schon der → völkerrechtswidrige Jugoslawien-Krieg 1999 leitet das nachfolgende zweite Jahrzehnt (2000-er Jahre) ein, in dem die Träume platzen, unter anderem mit den Problemen der Euro-Zone, dem Irak-Krieg 2003, dem Scheitern der EU-Verfassung 2005 bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, der neokonservativen Wende in den USA und ihrem Einfluss auf Europa, dem Steigern der medialen Feindseligkeiten gegen Russland. Geblieben sind der ungeliebte Euro und eine seelenlos anmutende Bürokratie in Brüssel.

Im dritten Jahrzehnt schließlich (2010-er Jahre) erfolgt der Abstieg Europas (Down Hill), beginnend mit der Bankenkrise. Auf dem Weg des Scheiterns liegen Austeritätspolitik, die Spaltung Europas in Nord und Süd, linker Populismus im Süden und rechter im Norden, Flüchtlingskrise ab 2015, Brexit ab 2016, Regionalismus in Schottland und Katalonien, soziale Spaltung quer durch Europa, autoritäre statt abwägende Corona-Politik. Und schließlich wieder ein heißer Krieg, der Europa und Europäische Union in jeder Hinsicht zurück wirft. Wie ein Finale (Endspiel), mit der möglichen Folge der Relegation in die zweite Liga.

Es handelt sich bei "Endspiel Europa" um einen Essay, also einen Versuch, verstanden als Vermählung der Utopie des Gedankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläufigkeit (Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, 1958). Als gelungen, nämlich ins Schwarze treffend, erscheinen die genannten drei Hauptteile des Buches, die die dreißigjährige Entwicklung des Projektes Europäische Union (EU) und ihre Einordnung in den geopolitischen Bezugsrahmen nachvollziehbar zusammenfassen – manche Etappe habe ich aus der Perspektive meines Berufslebens der letzten dreißig Jahre ähnlich erlebt. Weniger überzeugend ist der vierte Teil mit den Betrachtungen der Autoren "Zum Schluss: Falls Europa erwacht – wie wieder von Europa träumen?" Hier wird die Vorliebe der Verfasser für ein neues Verständnis von Souveränität deutlich, in deren Zentrum die Ablösung des etablierten Zuordnungsgemeinschaften Nation und Staat durch einen europäischen Staat mit föderaler Ordnung steht. Angesichts der im Westen und in Europa unübersehbaren Interessengegensätze, die teilweise den Charakter von Feindseligkeiten haben und angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges zunehmen werden, scheint mir, die Europäer sollten besser kleinere Brötchen backen und sich Diplomatie und Völkerverständigung im Rahmen der gegebenen Entität ihrer Nationalstaaten zuwenden, anstatt erneut Luftschlösser zu bauen. Es spricht nur das Prinzip Hoffnung dafür, als Gliedstaat einer Föderation Interessenkonflikte lösen zu können, wenn man es als Nationalstaat kaum schafft. Dennoch ist der Essay eine Bereicherung für Zeitgenossen, denen das betreute Denken nicht liegt. Der Blick lohnt übrigens auch in die zahlreichen Quellenangaben, von denen ich mir viele bereits im Laufe der zurückliegenden zwölf Monate erschlossen habe.

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Hier nun eine Auswahl von Quellen zum Ukraine-Krieg. Es ergeben sich Einsichten, die dem Erzählstrang der hiesigen Leitmedien deutlich entgegenstehen:

  • Jeder Konflikt hat eine Vorgeschichte, auch der Ukraine-Krieg. Dazu gehören der deutsche Nationalsozialismus und der 2. Weltkrieg mit der → Nachkriegsordnung, die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 und das Ende der Sowjetunion 1991 und damit das Ende der bipolaren Welt (was eben nicht das Ende der Geschichte ist), der Maidan 2014 in der Ukraine.
  • Der Ukraine-Krieg ist vordergründig ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine und hintergründig ein Krieg zwischen den USA und der Russischen Föderation. 
  • Es geht um die geopolitische Klärung, welche Rolle die USA künftig in einer veränderten Welt spielen werden, nachdem das US-Imperium seinen Zenit überschritten hat.
  • Kernthemen sind:
    • Bretton Woods, der Dollar als Vertrauenssache und die Folgen von alten und neuen Sanktionen,
    • Bedrohung des → Völkerrechts durch eine rules-based world order, die als Spielregel erscheint, deren Fassung im Belieben eines Spielers steht,
    • unipolare oder multipolare Weltordnung – mit Trend zu Letzterem.

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11. Februar 2023

Kindermund tut Wahrheit kund


Krieg
ist die größtmögliche
Häufung schrecklicher Ereignisse
durch menschliches Versagen.

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Annalena B., zur Zeit Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, hat wieder geplappert.

31.7.1914 Deutschland in Kriegszustand

Diesmal am 24. Januar 2023 bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, → als ihr der Satz entschlüpfte:
"We are fighting a war against Russia and not against each other."

Der erste Teil dieses Satzes ("Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland") ist leider wahr – und zugleich das unbeabsichtigte Eingeständnis, dass die Urheberin keinen Schimmer von Diplomatie hat und statt dessen die ihr vorgesetzte → Propaganda wiederkäut. 

Die Außenministerin ist die ranghöchste Diplomatin Deutschlands; sie vertritt das Land außenpolitisch in aller Welt.
Ihre Äußerungen werden Deutschland zugerechnet.
Aber Annalena B. plappert mit ihrem dürftigen Wissen daher wie ein unschuldiges Kind, das sie nicht mehr ist. Kindermund tut Wahrheit kund.

Eine andere alte Redensart sagt: Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Redensarten des Volksmunds sind Ausdruck prädigitaler Schwarmintelligenz.

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Text im Bild:

Berliner Tageblatt, 31. Juli 1914

Deutschland in Kriegszustand.

Wie am Schlusse einer Beratung, die heute mittag im Reichskanzlerpalais stattfand und bis 1 Uhr dauerte, amtlich kundgegeben wird, hat infolge der andauernden und bedrohlichen Rüstungen Rußlands der Kaiser auf Grund des Artikels 68 der Reichsverfassung Deutschland in Kriegszustand erklärt. Es handelt sich dabei um einen vorbereitenden Schritt, der aber einer Mobilisierung noch nicht gleichkommt. ... 

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80 Jahre nach Stalingrad sendet Deutschland wieder Panzer gen Osten. → Geschichte wird übersehen oder von Hybris verdrängt. Noch ist das Jahr 2023 jung – und es droht schon jetzt zum Jahr des Versagens für Deutschland zu werden.

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"Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese 'Wortemacher des Krieges', wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht. Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in dem sie selber nicht mitlitten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter. Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen."

Stefan Zweig, Die Welt von gestern (Stockholm 1942)

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Der Glaube an
Wunderwaffen und Endsieg
nützt den Waffenschmieden
und schadet allen Anderen.

Verhandeln heißt nicht kapitulieren.
Verhandeln heißt Kompromisse machen.