22. März 2020

Das kleine Sterben

Eine Buchbetrachtung zu:
Robert Seethaler, Das Feld
Hanser, ISBN 978-3-446-26038-2

"Idiot" ist ein Wort, dessen unbedachte oder bedachte Verwendung einem Ärger einbringen kann. Für den Plural "Idioten" gilt selbstredend das Gleiche. Wer es nicht glaubt, schleudere es seiner Chefin oder seinen Kollegen entgegen und erfahre dann die Reaktion.

"Idioten" kann aber auch als alleinstehendes Wort an die Qualität eines Aphorismus heranreichen.
Das hat Robert Seethaler in seinem kleinen Roman "Das Feld" geschafft. Dort sagt Sophie Breyer, ehemals Inhaberin eines Tabak- und Zeitungsladens, beim Blick aus ihrem Grab auf ihr verflossenes Leben nur dieses eine Wort: "Idioten".

Cover "Das Feld"
Wenn Sophie Breyer ihren Rückblick aufs eigene Leben, wenn sie ihr Resümee auf dieses eine Wort beschränkt, was mag das dann für ein Leben gewesen sein? Was ist ihr widerfahren, wem ist sie begegnet, wer hat ihr wie übel mitgespielt? Oder handelt es sich um eine radikale Form von Realismus?

Es gibt wohl kein Leben ohne Ärger. Und es gibt viele Wege, mit Ärger umzugehen, vielleicht so viele, wie es Lebende gibt. Ein probater Weg zum Entärgern ist das Spaziergehen. Alleine oder mit Wegbegleiter, im städtischen Kiez oder im Wald – oder auf einem Friedhof. Den meisten Friedhöfen eignet die wunderbare Wirkung, dass sie kurz nach Passieren der Eingangspforte die eigene Stimmung ändern, als ob das Mitgebrachte abgestreift und an der Garderobe abgegeben wurde. Vielleicht liegt es daran, dass das Betreten des Gottesackers die – nicht zwingend unangenehme – Ahnung auslöst, eines Tages selbst hier dauerhaft zu ruhen. Vielleicht liegt es daran, dass Friedhöfe andere Anblicke bieten als ihre Umgebung, in der Stadt wie auf dem Land. Vielleicht liegt es an den Farben der Grabstellen, deren Gedenksteine und Bepflanzung gedämpftes oder sattes, aber niemals leuchtendes Braun, Grau, Schwarz, Weiß oder Grün aufweisen, durchbrochen nur von goldenen oder weißen oder schwarzen Inschriften. Vielleicht liegt es an eben jenen Inschriften, deren Namen und Geburtstage und Sterbetage wie die drei Punkte wirken, mit denen sich in der Geometrie ein Raum fixieren lässt. Das genügt der eigenen Phantasie als Ausgangspunkt, um unwillkürlich ein – wenn auch nur vages – Bild von den Lebensumständen der zur letzten Ruhe bestatteten Person aufscheinen zu lassen, die auf diese Weise wieder kurz zum Leben erwacht. Und wenn man am Grab verweilt und alles jenseits der Grabstelle entrückt, könnte es sein, dass man die Stimme des Verstorbenen hört, der die Gunst des Augenblicks nutzt und von sich gibt, was ihm auf der Seele liegt.

So ähnlich geht es zu in Seethalers Totenbuch, das eingangs einen Friedhofsbesucher und seine Eindrücke zeigt, um dann neunundzwanzig Stimmen aus den Gräbern des Feldes, eines Friedhofs am Rande einer Kleinstadt, zu Gehör zu bringen, die ganz unterschiedliche Rückblicke und Ansichten der Verstorbenen zeigen, verschieden in Umfang und Sichtweise. Die kürzeste und prägnanteste und zugleich offenste ist die von Sophie Breyer: Idioten.

Andere haben mehr zu sagen.
Der Friedhofsbesucher malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.
Gerd Ingerland erlebte sein Begräbnis nicht als Abschied, sondern als Erledigung.
Der Gemüsehändler Navid al-Bakri hat herausgefunden, das man vieles über Menschen lernen kann, wenn man ihnen dabei zusieht, wie sie ihr Obst und Gemüse aussuchen. Er fühlte sich selten einsam, hatte keinen großen Wünsche und war klug genug, sich seine Träume nicht zu erfüllen.
Herm Leydicke lässt wissen, dass es bei den Toten keine Zeit gibt. Herm sagt auch, dass es vermutlich keinen Gott gibt. Aber das sei nur eine Idee.
Lennie Martin schildert anschaulich seinen ausweglosen Weg in die Spielsucht – das Trauma dieser Erfahrung der Hilflosigkeit hat er mit ins Grab genommen.
K.P. Lindow hatte zum Schluss auf seine alten Hände geblickt und bemerkt, dass sich die Sehnsucht nach den ersten Malen ganz unmerklich in die Hoffnung auf die letzten verwandelt.
Heiner Joseph Landmann, der Bürgermeister, hatte Krebs, bekam Morphium und erkannte im Namensgeber Morpheus den griechischen Gott der Träume, Sohn des Hypnos, Gestaltwandler, Bote zwischen den Welten und Gott des friedlichen Sterbens. Er erinnert sich an die vielen Hände, die er gedrückt, und an die wenigen, die ihn gehalten haben.
Susann Tessler bestreitet, dass der Tod nur ein Wort ist. Henriette war siebenundsechzig Tage lang ihre Freundin, die beste, die sie in ihrem Leben hatte, gestorben sechsundzwanzig Tage vor ihr. Susann sagt, die einzige Möglichkeit, im Alter nicht lächerlich zu werden, sei die eigene Lächerlichkeit anzuerkennen.
Annelie Lorbeer hätte aus reiner Neugier gerne das Sterben mitbekommen.


Foto Friedhof

Jede der Geschichten hat einen Bezug zu einer der anderen. Über ein paar Ecken kennt jeder Jeden, wie man es von einer Kleinstadt erwartet. Paulstadt ist aber nicht klein genug, um nicht von einem Freizeitzentrum mit Wettbüro umd Spielhalle beglückt zu werden – verblüffend, wie oft einem in der Literatur das Glücksspiel begegnet.

Ich stelle mir vor, dass Seethalers Buch eine Fundgrube für Trauerredner ist. Und für Trauernde.
Und ich stelle mir eine Übung vor: Welche Geschichte oder gar Lebensgeschichte würde meine Stimme aus dem Grab erzählen?

− ⦁ −

7. März 2020

Euphoria: Blau wie die Sehnsucht

Zu den Vorzügen meines inzwischen mehr als drei Jahrzehnte umfassenden Berufslebens gehört, dass ich immer wieder interessante Menschen kennen lerne, deren Können mich beeindruckt. Zum Beispiel Dr. Henning Brand, der nicht nur → als Psychologe tätig ist, sondern auch → als Musiker und Komponist sehr aktiv ist. Er hat mir ein Exemplar des 2018 produzierten und 2019 erschienen Albums → Euphoria von → Margaux & die BANDiten vermacht, dass nun meine Sammlung audiophiler Musik bereichert.

Ich bin alles andere als ein Digitalisierungsverweigerer. Deshalb ist auch meine musikalische Sammlung komplett digitalisiert. Schallplatten und Kompaktkassetten habe ich gar nicht mehr,  Neuerwerbungen erfolgen fast ausschließlich als Download im Internet, etwa bei → bandcamp. Und nur noch selten erwerbe ich eine → CD, um sie zu → rippen und anschließend zu verschenken. Nur wenige CD hebe ich komplett auf, weil ich Gestaltung und Texte von Verpackung und Booklet nicht missen möchte. So ist das nun auch mit Euphoria von Margaux & die BANDiten.

Cover "Euphoria"
Das Album Euphoria ist ein Glücksfall. Nein, es ist ein Kunstwerk, ein gelungenes, das vor allem auf dem Können der mitwirkenden Musiker beruht. Übrigens auch auf dem Können des Tontechnikers Rainhard Kobialka, der am Mischpult exzellente Arbeit geleistet hat – das Album überzeugt auch durch herausragende Klangqualität, 16 Stücke lang, von denen nur fünf weniger als vier Minuten klingen.

Musikalisch wird Worldmusic geboten, mit einer faszinierenden Mischung aus Jazz und Chanson mit Spuren von Alter Musik und Folk und Punk und Rock. Der Gesang und Sprechgesang von Margaux Kier trägt alle Stücke, vorgetragen mit klarer und geschulter Alt-Stimme in einer Vielzahl von Sprachen, vor allem polnisch, französisch, englisch und deutsch. Es lohnt sich auch sehr, den Texten voller wunderbarer Lyrik zu lauschen, etwa bei "Im Netz, W Sieci" oder "Herzfehler, Wada Serca". Begleitet wird die aus Polen stammende Vocalistin instrumental von sechs geschulten Musikern aus mitteleuropäischen Ländern mit Blas-, Saiten- und Tasteninstrumenten, darunter Henning Brand an Piano und Percussion.

Euphoria von Margaux & die BANDiten ist moderne Kammermusik auf höchstem Niveau. Oder sehr aufgeräumte und aufräumende Musik für Freunde audiophilen Musikgenusses. Oder eine sprachlich, historisch und regional grenzüberschreitende Musik- und Text-Collage aus Europa. Crossover total – man könnte von einer musikalischen Reise sprechen, aber das Bild des Reisens heutzutage wird beherrscht von konsumierenden Pauschal-Touristen, nicht von reisenden Entdeckern. Das Album Euphoria ist Musik zum Entdecken, immer wieder. Das muss dann E-Musik sein (um diesem alten, um Verwertungsrechte kreisenden Begriff neuen Sinn zu geben).

Erstaunlich, wieviel Kultur auf eine CD passt!

«Euphoria kommt mit dem Wind
badet in Tönen
jongliert mit Worten
Euphoria ist ein Gefühl

Euphoria ist grenzenlos
Euphoria ist eine Göttin
Euphoria ist Musik»

− ⦁ −