31. Dezember 2019

Nietzsche löffelweise

Annäherung an einen wirkmächtigen Philologen und Philosophen


Ich neige zu Minderheiten. Beispielsweise bei der Wahl des gemeinsamen Ehenamens: Ich habe bei meiner Heirat den Namen meiner Frau angenommen. Das war 1993 bei nicht mal 3 Prozent der Eheschließungen der Fall; → mittlerweile sind es 6 Prozent. Mit Büchern ist es ähnlich. Wir gehören zu den → 6 Prozent der Haushalte, die mit mehr als 250 Büchern leben. Ein Leben ohne Bücher ist etwa so sinnvoll wie ein Leben ohne Musik - womit wir schon bei Nietzsche sind, der meinte: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum."

Ein paar hundert Bücher sind aber nicht viel, sondern nur die berühmte Spitze des Eisbergs, denn im Jahr 2010 gab es laut Google → etwa 130.000 Bücher weltweit, und seit der Berechnung durch Google ist die Zahl nicht kleiner geworden. Dieser gigantische Bücherberg lässt sich in einem Menschenleben selbst bei Überschreitung der durchschnittlichen Lebenserwartung nicht lesen. Das gilt selbst für einige der Bücher, die ich gewissermaßen in meinen Lebensleseplan, also meine bibliophile Löffelliste, aufgenommen habe. Und als ob es nicht genug Bücher gäbe, kommt es vor, dass ich manche Bücher mehr als ein Mal lese.

So zum Beispiel "Nietzsche, Biographie seines Denkens" von Rüdiger Safranski, das ich in den Jahren nach dem Erscheinen der Erstausgabe von 2000 (Hanser Verlag, München, ISBN 3-446-19938-1) gelesen habe. Dieses Buch werde ich nun noch einmal lesen, weil mir → Simone Stölzel und → Thomas Stölzel mit vier kurzen Essays, die mühelos in einen (leiblichen) Zusammenhang zu bringen sind, den Mund wässrig gemacht haben.

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Da sind zunächst zwei Textbeiträge der beiden Dres. Stölzel, die im → Leidfaden (Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer) zum Themenschwerpunkt Bindung (Entstehung, Bedeutung, Belastung) erschienen sind:
Thomas Stölzel, Den Löffel abgeben. Anmerkungen zu einer intergenerationellen Metapher, Leidfaden 2019 Heft 4, S. 36
Simone Stölzel, Bindung an die Toten. Wie alte, magische Vorstellungen noch heute fortwirken, Leidfaden 2019 Heft 4, S. 84

Thomas Stölzel beschreibt, wie der Löffel zum sprichwörtlichen Bindeglied zwischen den Generationen wurde. In alten Zeiten wurden die persönlichen und unpfändbaren Löffel Verstorbener an ihre Nachkommen weitergegeben. "Imprägniert vom Speichel der Vorfahren bedeutete dies eine besondere Form der sekretorischen Mitgift, die eine starke (Ver-)Bindung erzeugte, eine intensive, leibliche wie symbolische Nähe über den Tod hinaus."
Die symbolische Bedeutung des Löffels besteht noch heute, etwa in der Metapher der Löffelliste, deren Bekanntheit erläutert wird. Das sich Metaphern auch für die Beratungspraxis nutzen lassen, verdeutlicht der Autor mit seinem Verweis auf das Kapitel "Anschauliche Worte" in seinem Buch → "Die Welt erkunden. Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und Coaching", Göttingen 2015.

Im selben Heft des Leidfadens berichtet Simone Stölzel von alten, magischen Vorstellungen von Gespenstern, nämlich wiederkehrenden Toten, als einen Ausdruck von Trennungsschmerz und Todesangst, die noch heute nachwirkenden. Die Furcht vor Gespenstern und Vampiren hat die Autorin bereits in ihrem literarisch-kulturwissenschaftlichen Buch → "Nachtmehrfahrten. Die dunkle Seite der Romantik", Berlin 2013, behandelt - ein Werk der Stölzels, dass in meiner Sammlung noch fehlt.
Die Autorin benennt auch einen bemerkenswerten → Trend zur Pathologisierung von Tod und Trauer und kommentiert zutreffend: "Als sei das Leben auf einer emotionalen Nulllinie ein unbedingt anzustrebender Grundzustand und jede Abweichung davon gefährlich, wenn nicht schon krankhaft."
Die Todesfurcht wird übrigens von der Autorin als "menschlich, allzumenschlich" bezeichnet, womit die Brücke zu den anderen beiden Essays der Dres. Stölzel geschlagen ist, denn hier wird nicht weniger als die → 1878 erschienene philosophische Schrift gleichen Titels von Friedrich Nietzsche in Bezug genommen.

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Je einen Brief haben Simone und Thomas Stölzel beigetragen zu dem Sammelband → "101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag", herausgegeben von Elmar Schenkel und Fayçal Hamouda und erschienen im Oktober 2019 in Leipzig:
Simone Stölzel in: Elmar Schenkel & Fayçal Hamouda (Hrsg.), 101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag, Leipzig, Oktober 2019, S. 192
Thomas Stölzel, Am Leitfaden des Leibes … in: Elmar Schenkel & Fayçal Hamouda (Hrsg.), 101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag, Leipzig, Oktober 2019, S. 293

Am 15. Oktober 2019 wäre Nietzsche 175 Jahre alt geworden. Warum es 101 Briefe geworden sind, lassen uns die Herausgeber nicht wissen, aber Thomas Stölzel stellt in seinem Brief einen Bezug zu dieser Zahl her. Dazu sogleich.

Zunächst erzählt Simone Stölzel in ihrem Brief an Nietzsche, den sie aus Sils-Maria (Schweiz) schreibt, von ihren Erlebnissen als Kustodin im dortigen nach Nietzsche benannten Museum. Die Briefschreiberin duzt ihren Friedrich Nietzsche, weil sie sich ihm näher und verbundener fühlt als einem damaligen Freund, der ihr schon lange kein Freund mehr ist. Ihr sind seitens der Besucher komische Irrtümer und Dummheiten, aber auch ausgesuchte Höflichkeiten und Nachdenkliches begegnet. Ein leiblicher Bezug kommt auch zur Sprache: "'Gib das schöne Händchen!' hieß es offenbar wiederholt, als man Dich in Deiner geistigen Umnachtung mit gewaltigem Schnurrbart wie eine kuriose Mischung aus wildem Tier und genialem Kleinkind den Besuchern vorführte." Die Autorin schließt daraus, dass Nietzsche ebenso wie ihr die Linkshändigkeit ausgetrieben wurde.

Im Brief von Thomas Stölzel an Nietzsche steht das Leibliche ganz im Zentrum. Er eröffnet mit dem Hinweis, dass Nietzsche, den er siezt, 101 Jahre alt hätte werden müssen, um zu erleben, dass philosophischerseits etwas mit dem Leib angefangen wurde. Bis 1945 war es Nietzsche, der sich pionierhaft mit dem Leib und seinem Einfluss auf das Denken befasst hatte. Diesen Ausgangspunkt und das, was 1949 und danach kam, skizziert der Autor in seinem Brief. Am Ende des Briefes findet sich dann ein Post Scriptum, in dem Thomas Stölzel auf ein kurioses Detail, ein markantes Etwas an Nietzsches Körper und ikonisiertem Antlitz eingeht. Er präsentiert ein Gedicht über den nietzscheanischen Schnurrbart: "Überwachsene Lippen".

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In der Tat begegnet uns Nietzsche, der auch → als der größte Psychologe unter den Philosophen bezeichnet wurde, bildlich zumeist mit einem monströsen Schnurrbart von solchem Ausmaß, dass man meinem könnte, sein Gesicht unterhalb der Nase verschwinde hinter einem Vorhang. Mich erinnert das an Büroarbeiter, die auf ihrem Schreibtisch einen Handapparat aus Nachschlagewerken und anderen mehr oder weniger nützlichen dickleibigen Büchern so arrangieren, dass ein etwaiger Besucher von einem wuchtigen Schutzwall förmlich auf Abstand gehalten wird. Bei Nietzsche handelt es sich wohl eher um die Kenntlichmachung eines Status der Verhinderung intimer Annäherung, worauf seine Vita hindeutet, als um ein Statement in Form eines antifeministischen Schutzwalls, denn letzteres würde ihm nicht gerecht, weil → er gegenüber Frauen nicht feindselig, sondern eher fair eingestellt war.

Das Cover der Erstausgabe 2000 von Safranskis Biographie über Nietzsches Denken, die ich nun nochmals lesen werde, zeigt das sattsam bekannte ikonisierte Bild von Nietzsche. Das Cover der Neuausgabe 2019 präsentiert demgegenüber drei Bildnisse von ihm in unterschiedlichem Alter und somit einen Wandel statt einer Ikone: Im ersten Bild ist Nietzsche ein junger Mann ohne Bart, im zweiten Bild trägt er bereits einen stattlichen, aber das Kinn noch freilassenden Schnurrbart und im dritten Bild schließlich einen Vorhang vor Ober- und Unterkiefer.



Safranski stellt seinem Buch über Nietzsches Denken übrigens ein Zitat von Nietzsche aus einem Brief vom 29. Juli 1888 voran: "Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir."
In diesem Zitat werden drei philosophische Kompentenzen angesprochen: Staunen, Humor und Skepsis. Die philosophischen Kompentenzen hat Thomas Stölzel vorgestellt in seinem Buch → "Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung", Göttingen 2012. Hiermit vertraut wird sich gewiss ein anderer Zugang zu Nietzsches Denken erschließen als bei der ersten Lektüre der genannten Biographie seines Denkens.


4. Dezember 2019

Das schleichende Gift der Polarisierung

Über den schmalen Grat zwischen Freundschaft und Hass


Eine Buchbesprechung zu:
Ferdinando Aramburu, Patria
Rowohlt, ISBN 9783498001025

Es regnet häufig im → Baskenland; das bringt die Nachbarschaft zum kantabrischen Meer (Golf von Biskaya) mit sich. Es regnet auch auf dem Umschlagbild des Buches; es zeigt einen Mann unter einem roten Regenschirm, der - so scheint es - durch eine tropfennasse Autoscheibe beobachtet wird. Es regnet oft in "Patria", wenn das Leben zweier Familien über gut zwei Jahrzehnte und ihre schicksalhaften Berührungspunkte erzählt wird. Protagonisten sind der Stahlarbeiter Joxian mit seiner Frau Miren und ihre Kinder Joxe Mari, Arantxa und Gorka und, zunächst im selben baskischen Dorf lebend, der Fuhrunternehmer Txato mit seiner Frau Britoni und ihre Kinder Xabier und Nerea. Alle Figuren werden im Laufe ihres Weges im Regen stehen gelassen, einige mehr, andere weniger.

Das liegt daran, dass die beiden Familien, die vor allem durch die beiden Mütter als beste Freundinnen und durch den Radrennsport der beiden Väter miteinander verbunden sind, sich unter dem Druck des Terrors der → ETA entfremden. Am Tiefpunkt der Entfremdung sehen wir zwei Männer, einst gute Freunde, nun entzweit, ein jeder in seinem Haus auf seinem Bett, beide komplett angezogen ruhend, der eine zur letzten Siesta seines Lebens, der andere schlaflos nach der Ermordung des einen. Das ist die Zäsur: Ein Baske im eigenen Dorf ermordet, letztlich nur, weil er wirtschaftlich erfolgreich war und sich weigerte, "Revolutionssteuern" - wie die Schutzgelderbressung durch die ETA euphemistisch benannt wurde - zu bezahlen, und als erster von einer Liste mit neun möglichen Todeskandidaten ausgewählt wurde.

Cover "Patria"
Den Weg zur politischen Spaltung des Dorfes und - nicht minder wichtig - den Weg zur vorsichtigen Wiederannäherung erzählt Ferdinando Aramburu in mehr als einhundert Kapiteln, die meisten nur wenige Seiten kurz, was dem Innehalten und Sackenlassen beim Lesen entgegenkommt. Die Schilderung des Weges zu Spaltung und Terror ist wichtig, um das Warum zu begreifen; die Schilderung der Wiederannäherung ist umso wichtiger, als es mehr Mut erfordert, um Verzeihung zu bitten, als eine Waffe abzufeuern.

Die szenisch anmutenden Kapitel erzählen jeweils aus der Perspektive eines der neun genannten Protagonisten, vielfach in Rückblicken, ohne chronologische Reihenfolge, so dass die vielen Schnitte zwischen den vielen Szenen die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Perspektiven der Figuren betonen; eine - womöglich monokausale - Lesart der Geschichte der Handelnden oder Getriebenen wird so vermieden. Und trotzdem wird Vieles deutlich, auch die Radikalisierung der Jungen, die sich immer mehr verstricken in die Organisation der ETA, gewissermaßen immer mehr hinein rutschen, bis zum ersten Mord, in der Organisation "Exekution" genannt. So werden Taten im Namen von Prinzipien begangen, die Andere sich ausgedacht haben, und die gehorsam und naiv befolgt werden.

Was macht Terror mit uns?
Mit Opfern und ihren Angehörigen?
Und mit Tätern und ihren Angehörigen?
Das beschreibt Ferdinando Aramburu in seinem Roman Patria, etwa am Beispiel der skurril anmutenden Trauer von Britoni oder der selbstschädigenden Verhärtung von Miren oder der Sexsucht von Nerea oder Gorkas Leidenschaft für Bücher und die baskische Sprache Euskara oder Joxe Mari’s Läuterung in jahrelanger Haft, und angesichts der Offenheit, mit der der Autor zeichnet, und der Öffnungsbereitschaft, die er den Lesern abverlangt, ist es wirklich sinnvoll, dass → Autor und Verlag ausdrücklich davon abgesehen haben, für die deutsche Ausgabe den spanischen Titel "Patria" einfach ins deutsche "Vaterland" zu übersetzen - der innere Dialog zwischen Buch und Leser würde womöglich verschattet mit Zuschreibungen, die hierzulande zu Stereotypen geworden sind.

Dabei ist die Erzählweise sehr direkt und lebt von den meist kurzen Sätzen, die manchmal herrlich unvollständig sind, zum Beispiel: "Es wurde gesagt, dass, gesprochen über." Auch so werden die Identitäten der Figuren erkennbar, ihre Charaktere, Eigenarten und Vorlieben, die letztlich alle Basken sind, verstrickt in ihre uralte Tradition mit einer mehr als 7.000 Jahre alten Sprache, die mit keiner anderen verwandt ist. Terror ist trotz der mehr als 800 Morde der ETA in sechs Jahrzehnten keine baskische Tradition; er wurde zuvor durch das → Franco-Regime und die Bomben der deutschen → Legion Condor auf → Guernica ins Baskenland gebracht. Krieg oder Frieden, Bürgerkrieg oder innerer Frieden - das ist eigentlich nur die Frage, wie wir miteinander umgehen.

12. Oktober 2019

White Trash oder sozialer Aufstieg - eine Frage der Haltung. Ein Plädoyer für den amerikanischen Traum


Eine Buchbesprechung zu:
J. D. Vance, Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
Ullstein, ISBN-13 9783548377636

Am Anfang steht ein Gewaltexzess: die legendäre → Hatfield-McCoy-Fehde, ein blutiger Konflikt zwischen zwei Großfamilien, der sich Ende des 19. Jahrhunderts in einem abgelegenen Tal der Appalachen ereignete und mehr als ein Dutzend Menschen das Leben kostete. Ein Cousin des Großvaters mütterlicherseits des Autors gehörte zum Clan der Hatfields. Die Hatfield-McCoy-Fehde steht heute in den USA sprichwörtlich für eine lang anhaltende Feindschaft. Damals wechselte das Image der Bewohner der Appalachen → vom Pionier zum gewalttätigen Hinterwäldler, dem Hillbilly, Redneck oder White Trash. Im Hintergrund stand eine wirtschaftliche Veränderung: die Entdeckung und Förderung von Steinkohle in den Appalachen.

Der Buchtitel kündigt eine Klage an, denn das ist eine Elegie: ein Klagegedicht, dass nach heutigem Verständnis zumeist traurige, beklagenswerte Themen beinhaltet. Der Titel verknüpft die Klage mit der Geschichte der Familie des Autors und – so im deutschen Titel – mit einer Gesellschaft in der Krise. Treffender ist indes der amerikanische Originaltitel, in dem von Kultur in der Krise die Rede ist, und es ist gewiss ein Unterschied, ob man eine (bestimmte) Kultur (von Teilen) einer Gesellschaft oder gleich die ganze Gesellschaft als solche in der Krise sieht. Es liegt dem Autor J. D. Vance aber fern, die amerikanische Gesellschaft in Frage zu stellen. Vielmehr erzählt er, warum eine bestimmte Prägung seiner Landsleute in den Appalachen ihnen beim Verwirklichen des amerikanischen Traums im Wege steht. Letztlich haben wir es bei der Hillbilly-Elegie nicht nur mit einer Familiengeschichte zu tun, die einen ungeschminkten Blick ins brutale Leben in der amerikanischen Provinz bietet, sondern mit einem Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Und es ist die Geschichte von einem, der auszog, um nicht mehr wegzulaufen.

Neben den vielen Menschen aus Fleisch und Blut, die den Werdegang des jungen J. D. Vance auf dem Weg von der Armut in der Provinz zur Elite von der Yale-Universität beeinflussen, begleitet ihn und den Leser stets die Figur des amerikanischen Traums. Um den amerikanischen Traum ranken sich Mythen, und dem vielzitierten Bild vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär ist wohl jeder schon begegnet. Aber eigentlich geht es beim amerikanischen Traum nicht um einen märchenhaften Aufstieg, sondern um ein Arbeitsethos, das zur nationalen Identität der USA gehört und Symbol des amerikanischen Selbstverständnisses ist. Der amerikanische Traum hat zwar viele Facetten, aber letztlich geht es um die Möglichkeit des Menschen, seine individuellen Ziele durch eigene Anstrengung und Arbeit erreichen zu können.

Cover "Hillbilly-Elegie"
Doch wie weit kommt man mit harter Arbeit? Der Autor erzählt, wie seine Großeltern in der Nachkriegszeit versuchten, mit Fleiß und Mobilität der Armut in den Appalachen Kentuckys zu entkommen und in der Mitte einer sich modernisierenden Industriegesellschaft in Ohio anzukommen. Aber es gelingt den Großeltern kaum, dem elenden Kreislauf aus Alkohol, Drogen, Gewalt ("die Art, die einen ins Gefängnis bringt"), → Medikamentenabhängigkeit und Schulden zu entrinnen. J. D. Vance erzählt von der Resignation einer ganzen Bevölkerungsschicht, der er vorhält, dass sie sich in Teilen selbst aufgegeben hat. Die mit Erkenntnissen aus soziologischen Studien angereicherte autobiografische Schilderung lässt unwillkürlich eine Erklärung für den Wahlsieg von Donald Trump im Herbst 2016 aufscheinen – die Wahlentscheidung im → Rust Belt war bei nüchterner politischer Analyse vorhersehbar.*

"Du kannst den Jungen aus Kentucky rausholen, aber du kannst nicht Kentucky aus dem Jungen rausholen." Der Autor berichtet zahllose Beispiele aus seiner Kindheit und Jugend und seiner Großfamilie, die das Bild einer Bevölkerungsgruppe und einer Region entstehen lassen, die sich als abgehängt wahrnimmt, vergessen oder übergangen bei der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, und hierauf mit Resignation reagiert. Die Betroffenen glauben nicht, dass es sich lohnen könnte, für ein besseres Leben zu arbeiten, denn der Erfolg der Anderen liegt an deren Intelligenz und Talent, womit die eigene Anstrengung sinnlos erscheint. Der Vater des Autors hat den Wert harter Arbeit immer anerkannt, glaubt aber nicht, das sie der Weg zur Yale-Universität ist, sondern man dort aufgenommen wird, wenn man sich als Linker oder Schwarzer ausgibt. Mit dieser Sichtweise hält man die gewöhnlichen Maßstäbe des Erfolgs nicht nur für unerreichbar, sondern für den Besitz von Menschen, die anders sind als man selbst.

Der Autor hatte das Glück, dass insbesondere seine Großmutter mütterlicherseits alles getan hatte, um ihn von dieser Haltung abzubringen; vor allem hatte sie ihm ein Stück sonst fehlender familiärer Stabilität gegeben. Das war die Grundlage seiner sozialen Mobilität, und der Autor singt Loblieder des sozialen Aufstiegs, schildert aber auch plastisch seine Schattenseiten. Denn sozialer Aufstieg ist keineswegs nur eine finanzielle oder wirtschaftliche Angelegenheit, sondern auch eine Veränderung des Lebensstils. Die Reichen und Mächtigen sind nicht nur reich und mächtig, sie haben auch andere Werte. Wechselt man von der Arbeiterschicht in die Welt der gut bezahlten Berufe mit akademischer Ausbildung, wird beinahe alles, was das alte Leben ausgemacht hat, entwertet: im besten Falle ist es nicht mehr schick, im schlechtesten Fall ungesund. Der soziale Aufstieg ist kein sauberer Schnitt, und die Welt, die der Autor hinter sich gelassen hat, holt ihn immer wieder ein.

All das lässt sich aushalten und lernen, und J. D. Vance, ein Republikaner, der sich in die üblichen Schubladen nicht einordnen lässt, beklagt die Rhetorik heutiger Konservativer, die ihren Wählern nicht Mut macht, sondern ihre Unmündigkeit schürt. Es sind aber die Erwartungen, die sie an ihr eigenes Leben gestellt haben, die die Erfolgreichen von den Gescheiterten unterscheidet. Das ist eine Frage der Haltung, nämlich der Selbstachtung, die man entweder vorgelebt bekommt oder eben nicht. Deshalb erzählt die Hillbilly-Elegie von einem, der auszog, um nicht mehr wegzulaufen. Der soziale Aufstieg geht dabei Hand in Hand mit dem privaten Glück: Die Verwandten des Autors, denen es gelungen ist, eine stabile Familie zu gründen, hatten jemanden geheiratet, der nicht aus der kleinen Welt der Appalachen stammte. Dieses Glück hat auch J. D. Vance mit seiner Frau Usha.

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*   Eindrucksvoll Michael Moore, 28.7.2016: Das ist der nächste Präsident. Fünf Gründe, warum Donald Trump gewinnen wird.
Originaltext auf dem Blog von Michael Moore
Deutsche Fassung in DIE ZEIT vom 28.7.2016
Wie Michael Moore Trumps Wahlsieg voraussagte, FAZ 11.11.2016

19. August 2019

Follow Me nach Südtirol und hör’ Anita Obwegs

Noch vor einigen Jahren war ich der Meinung, dass nur Dumpfbacken nach Südtirol fahren - wo die → Kastelruther Spatzen residieren und vor einem halben Jahrhundert → revanchistische Tiroler den Anschluss an Österreich herbeibomben wollten. Es kam dann anders, als wir 2014 für einen Kurzurlaub Freunde ins Tal der Eisack begleiteten und erkannten, dass der Weg von Berlin nach Südtirol nicht weiter ist als der nach Norwegen, der Süden aber weitaus abwechslungsreicher ist. Damit meine ich nicht nur die alpine Landschaft, sondern die überbordende Fülle der Kultur - zu deren politischen Facetten auch die → veränderliche Autonomie der italienischen Provinz Bozen gehört.

Ist das Interesse an Südtirol erwacht, geraten auch TV-Beiträge wie "Ein Sommer in Südtirol" in den Blick. Der 90-minütige Beitrag im leider vorherschenden Bilderbuch-Modus mit musikalischem Geplänkel zur Untermalung ist aktuell noch bis zum 12. September 2019 in der → Mediathek von 3sat zu sehen. Dort geht es ab Minute 57:37 um die → ladinische Sprache und die junge Musikerin Anita Obwegs aus → Ladinien. Die Frage, warum sie auf ladinisch singt, beantwortet Anita Obwegs mit dem Hinweis auf ihre Muttersprache, die ihr spontan über die Lippen komme und sich gut singen lasse, weil sie viele Vokale hat; man könne sie leicht in eine Melodie verwandeln, schon beim Sprechen habe sie etwas sehr Melodisches. Hier zeigen sich bereits Musikalität und Natürlichkeit der jungen Künstlerin, was zwei kurze Auzüge ihres musikalischen Repertoires unterstreichen.

Cover AZ Anita & Zenzo "T'amez"
Die beiden kurzen Hör- und Sehproben veranlassten mich zum Suchen. Gefunden habe ich das bereits 2013 produzierte Album "T’amez" von A&Z with Anita & Zenzo. Als einzige Bezugsquelle ist → Amazon auszumachen, wo ich aus zwei Gründen ungerne einkaufe: Weil der große Strom viel mit dem Ladensterben in unseren Städten zu tun hat, und weil der Download nur als → MP3 angeboten wird, ich aber als Freund → audiophiler Musik das Dateiformat → FLAC bevorzuge.

Hier konnte ich aber nicht anders und habe für 9,99 Euro dreizehn erstklassige Tracks mit einer Spielzeit von 52 Minuten aus der Rubrik Singer/Songwriter erworben, aus der Mitte Europas mit ladinischen, deutschen, italienischen und englischen Texten, vorgetragen mit der herausragenden Stimme von Anita Obwegs und instrumental überzeugend begleitet unter anderem durch ihren Vater Zenzo Obwegs. Beim Abspielen auf meinem digitalen Medienplayer präsentierte sich die Aufnahme dann nicht nur mit einer angezeigten Sampling-Rate von 44 kHz/24 Bit, sondern überzeugte auch mit sehr gutem Klang, der audiophil trainierten Ohren entgegen kommt. Es ist hörbar, dass Benni Valentin als Tontechniker im Studio saubere Arbeit am Mischpult geleistet und sorgfältig in MP3 formatiert hat. Dennoch: Für den audiophilen Hörgenuss, zu dem das Album von Anita und Zenzo Obwegs einlädt, bleibt ein verlustfreies Datenformat wie FLAC wünschenswert …

Anita Obwegs hat eine auffallend gute Stimme, beherrscht aber auch das Spiel mit Akkordeon, Gitarre, Flöte und Klavier. Das Album "T’amez" ist insgesamt den Rubriken Singer/Songwriter und Folk zuzuordnen. Die Songs verweisen aber auch auf Country und Pop; sogar Bezüge zu World-Music stellen sich ein, wenn alpenländisches Jodeln und Akkordeon ("Anterstone") oder nordafrikanische Klänge ("Marocco") mit global vertrauten Rhythmen harmonieren.

Zwölf der dreizehn Songs von "T’amez" sind in mäßiger MP3-Qualität → auf Youtube zu hören; nur "Follow me" ist dort nicht dabei. Einige der Songs haben das Zeug zum Ohrwurm; keinen mag ich in dem Album missen, und zwei gefallen mir besonders gut: "Emma", das es auch → als hochwertiges Video gibt und bei dem Anita Obwegs wie die südtiroler Antwort auf die Norwegerin → Kari Bremnes klingt, sowie "Follow me" mit seinem sehr rockigen Sound.

"T’amez" macht Lust auf mehr. Die Suche nach Mehr zeigt, dass "T’amez" das zweite Album von Anita & Zenzo ist - ihre → Debut-CD "Acustica" war bereits 2009 erschienen. Leider lässt sich für dieses Debut-Album keine einzige Hörprobe oder Bezugsquelle mehr finden, fast so, als ob es nie existiert hätte. Sollte jemand diesen Post lesen und ein Exemplar von "Acustica" besitzen: Bitte melden!

Offen bleibt, ob Anita Obwegs irgendwann eine neue audiophile Perle veröffentlicht - dann hoffentlich bei → bandcamp statt amazon ...

26. Juni 2019

Unrecht in Chemnitz und das Zeug zum Helden

Eine Buchbesprechung zu:
Benno Kirsch, Walter Linse, 1903 - 1953 - 1996
Allitera Verlag, ISBN 978-3-96233-113-9

Zugegeben: Der Titel dieser Buchbesprechung könnte an → breit diskutierte Vorfälle im Spätsommer 2018 in der kreisfreien Stadt im Südwesten des Freistaates Sachsen erinnern. Darum geht es hier aber nicht, sondern um eine Biografie, die eine Vita der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Schauplätzen in Chemnitz und Berlin schildert, eine Vita, die mit nationalsozialistischem Unrecht verknüpft ist und mit der Frage, wie wir Heutigen die damals Lebenden bewerten. Das tun wir reichlich, und es ist sinnvoll, den Blick für die Grundlagen des eigenen Urteils zu schärfen. Es lohnt sich also, hier weiter zu lesen – vor allem aber das wertvolle Buch von Benno Kirsch über Walter Linse.

Wir Heutigen haben das Glück, in Westdeutschland seit 1949 und im wiedervereinigten Deutschland seit 1990 in einer als Demokratie und Rechtsstaat verfassten Nation mit politischer Stabilität und weitgehendem Frieden im Inneren und Äußeren zu leben. Dieses Glück hatte Walter Linse nicht: Er hat – wie Viele seiner Zeit – nach 1903 fünf Herrschaftsformen und zwei Weltkriege erlebt und überlebt – bis zu seiner Ermordung 1953 in der damaligen Sowjetunion. Man sollte nicht der Versuchung erliegen, aus allgemeingültigen (?) Werten der zivilisierten Menschheit und unabhängig von der historischen und persönlichen Situation der Handelnden auf stets gleiche moralische Entscheidungen als quasi einzig richtige ("alternativlose") Wertentscheidung zu schließen – allzu leicht würde man aus der Perspektive unserer eigenen, vergleichsweise komfortablen Lebenswirklichkeit übersehen, dass es Zeitläufte und Lebensumstände geben kann, die wir auch auf den zweiten Blick kaum ermessen können.

Aktuelle repräsentative Studien* der → Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) zeigen, dass die rückblickende Betrachtung der Zeit des Nationalsozialismus zu verzerrten Urteilen führt: Die Befragten meinten durchschnittlich, dass die deutsche Bevölkerung damals zu je etwa einem Drittel zu den Opfern (35 %) und Tätern (34,0 %) zählte. Ein deutlich geringerer Teil der Deutschen (16 %) hat nach Meinung der Befragten potentiellen Opfern geholfen. Demgegenüber halten es gut zwei Drittel der Befragten (69 %) für unwahrscheinlich, dass sie selbst zu Tätern geworden wären, wenn sie in der NS-Zeit gelebt hätten. Dass sie selbst potentiellen Opfern geholfen hätten, halten knapp zwei Drittel der Befragten (65 %) für wahrscheinlich. Diese bemerkenswert positive Selbsteinschätzung, die sich in den Ergebnissen der Studien widerspiegelt, könnte durchaus auch aus einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte resultieren, aus der die Befragten "gelernt" haben und deswegen weniger anfällig für menschenverachtende Ideologien sind als frühere Generationen. Allerdings darf die Überschätzung der eigenen Courage und der eigenen Handlungsmöglichkeiten bzw. die Unterschätzung des Einflusses gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf das eigene Handeln (sog. → Attributionsfehler) nicht übersehen werden – die geschilderte Selbsteinschätzung tendiert leider zur Selbstüberschätzung.

Cover "Walter Linse"
Letztlich steckt der Teufel auch hier im Detail: Was sind die konkreten Umstände, die die eigenen Handlungskompetenzen bzw. den Einfluss gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf das eigene Handeln ausmachen? Wären die "mutigen" Antifaschisten unserer Zeit, deren Lippenbekenntnisse man in den sozialen Medien zahlreich besichtigen kann, Widerstandskämpfer gewesen in der Zeit ab 1933? Vorschnelle Antworten kann nur geben, wer sich die damaligen Umstände nicht vergegenwärtigt – soweit das heute auch mit Blick auf die Quellenlage noch möglich ist. Eine Annäherung hieran leistet Benno Kirsch mit dem vorliegenden Buch in zweifacher Weise beispielhaft: nämlich am Beispiel der gründlich recherchierten Vita des Walter Linse und beispielgebend mit seiner Darlegung der Bewertungskriterien des Handelns von Walter Linse.

Walter Linse wurde 1903 in Chemnitz geboren und ist dort zur Schule gegangen, hat in Leipzig Jura studiert, seine ersten beruflichen Schritte im sächsischen Justizdienst getan und ist 1938 als Referent in die Industrie- und Handelskammer (IHK) Chemnitz eingetreten, wo er bis 1942 mit der Arisierung von Wirtschaftsunternehmen befasst war. Er hat die Befreiung Sachsens von den Nazis durch die Rote Armee, den anschließenden Aufbau der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und das Erstarken des von der SED errichteten Regimes erlebt. Die Zwänge der Kollektivierungen veranlassten ihn zur Übersiedlung nach West-Berlin, genauer gesagt in den damaligen amerikanischen Sektor der Stadt, die damals noch nicht von der Berliner Mauer (1961 bis 1989) abgeriegelt, aber bereits eine Hochburg von gegenseitiger Infiltration und Spionage im Kalten Krieg war. Dort fand er schließlich Anfang 1951 Anstellung beim Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UfJ) und setzte sich aktiv mit dem SEDistischen Unrechtsstaat der DDR auseinander. Das führte letztlich zu seiner Verschleppung und Ermordung durch die → Tschekisten. Erst im Mai 1996 wurde Linse durch den Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation als politisches Opfer rehabilitiert.

Der Öffentlichkeit bekannt war der promovierte Jurist Walter Linse jahrzehntelang als Opfer der stalinistischen Machenschaften des Ostblocks. Es ist das Verdienst von Benno Kirsch, als Erster der Frage nachgegangen zu sein, was eigentlich der Gegenstand des Berufslebens von Linse war, bevor er als fast Fünzigjähriger durch das MfS der DDR verschleppt wurde. Die Offenlegung der Rolle Linses bei der IHK Chemnitz und seiner dortigen Rolle bei der Arisierung unter dem NS-Regime erfolgte in der Erstauflage des vorliegenden Buches im Jahr 2007 – und hat dem Autor zu Unrecht die Anschuldigung einer Verharmlosung der Rolle Linses eingebracht. Benno Kirsch hat dies erfreulicherweise zum Anlass einer Vertiefung seiner Recherchen und zu einer Neuauflage seines Werkes genutzt, die zusätzliche Quellen zur Vita Linses erschlossen hat. Der mit über 600 Fußnoten belegte Befund seiner gründlichen Recherche ist im Ergebnis unverändert geblieben:

Walter Linse dachte vermutlich eher national und konservativ als sozialistisch, stand dem politischen Betrieb distanziert gegenüber und bewegte sich stets im Mainstream des Akzeptierten. Er war während des Nationalsozialismus weder Parteigenosse, Karrierist oder Richter noch Widerstandskämpfer oder Verfolgter. Linse war Mitläufer, politisch uneindeutig und vermeintlich neutral – womit er letztlich auf der Seite der NS-Diktatur stand, ohne aktivistischer Nazi zu sein. Dass er die Ablehnung des NS-Regimes nicht zum Ausdruck brachte, macht das Verstehen seiner Rolle aus heutiger Sicht, die von anderem Akzeptierten geprägt ist, so schwer. Linses Leben vom Holocaust her zu beschreiben, würde die Aufgabe verfehlen, die Vergangenheit zu verstehen. Linse fällt eher durch seine Normalität auf und hat einen eher geringen Beitrag bei der Arisierung geleistet. Interessanter als die weitere Befassung mit Linses Rolle in der Nazizeit wäre die überfällige Untersuchung der Arisierung in Chemnitz – man würde dann wohl feststellen, wer in Wahrheit die Fäden zog und wer von dem damaligen Unrecht profitierte.

Benno Kirsch arbeitet heraus, dass heute niemand überzeugt sein sollte, damals nicht selber "mitgemacht" zu haben, denn Linse ist dem Durchschnittsbürger von heute näher, als ihm lieb sein kann. Nebenbei erfährt man etwas über Unterschiede zwischen Burschenschaften und studentischen Korps, begegnet der Figur des von Ernst Fraenkel beschriebenen → Doppelstaats und der gebotenen Differenzierung zwischen Arisierung und Holocaust. Gelegentlich wird der Lesefluss gestört von zahlreichen und wiederkehrenden Abkürzungen, worüber das im Anhang befindliche Abkürzungsverzeichnis hinweghilft. Das Buch ist fast völlig frei von Schreibfehlern und lässt nur eine inhaltliche Unstimmigkeit aufscheinen, wenn dem Protagonisten für eine Tätigkeit bei der Imbal-Niederlassung in Berlin-Grunewald ein Monatsgehalt von 6000 DM zugeschrieben wird – es werden wohl 600 DM gewesen sein. Das gut 260 Seiten umfassende Buch ist ausgestattet mit 22 Abbildungen nebst Abbildungsverzeichnis, dem schon erwähnten Abkürzungsverzeichnis, einer Quellenübersicht und einem Literaturverzeichnis.

Zu den beiden Hauptschauplätzen Chemnitz und Berlin sind hier noch zwei Notizen angezeigt, die die Vergänglichkeit von akzeptierten Normalitäten zeigen und den historischen Kontext abrunden:

  • Am 10. Mai 1953 wurde Chemnitz umbenannt in Karl-Marx-Stadt. Zu diesem Zeitpunkt war Walter Linse zwar noch am Leben, aber bereits seiner Freiheit beraubt. Bei seiner Rehabilitierung am 8. Mai 1996 trug die Stadt wieder ihren ursprünglichen Namen - die Akzeptanz der Benennung nach Karl Marx hatte → im Frühjahr 1990 per Abstimmung ein deutliches Ende gefunden. Benno Kirsch hat den Namen "Karl-Marx-Stadt" zu Recht kein einziges Mal erwähnt.
  • Der Autor spricht in seinem Buch stets von "Westberlin" – eine Schreibweise, die ihm zu Zeiten des Kalten Krieges den Vorwurf der Nähe zur DDR eingebracht hätte, denn "Westberlin" war die in der DDR erwartete Schreibweise in Abgrenzung zu "Berlin, Hauptstadt der DDR", während man im freien Westen amtlicherseits stets von "Berlin (West)" und im nicht-amtlichen Bereich bestenfalls noch von "West-Berlin" gesprochen hat.

Mein Resümee: Benno Kirsch legt eine ehrliche und nachvollziehbare Bewertung der Person und Rolle von Walter Linse vor, weil der Autor der Versuchung widersteht, sein Urteil an aktuellen Instrumentalisierungsbedürfnissen auszurichten, und sich statt dessen an die recherchierbaren Fakten hält. Das Zeug zum Helden haben nur die Wenigsten; → dazu muss den Menschen ein Impuls zum Handeln ohne Rücksicht auf das eigene Wohl innewohnen. Walter Linse war wohl das, was man einen normalen Menschen nennt: auf Anerkennung bedacht und strebsam, zudem bemüht, sich im eigenen Leben ein Plätzchen am wärmenden Ofen zu sichern. Im Nazismus ist ihm das durch Orientierung am damals Akzeptierten noch gelungen, im SEDismus nicht mehr. Er ist von Chemnitz nach West-Berlin geflohen, um dann von dort – unter Außerachtlassung des Selbstschutzes – gegen den Unrechtsstaat DDR zu arbeiten. Das hat ihn die Freiheit und das Leben gekostet.

Walter Linse bleibt ein ambivalentes Beispiel für die – letztlich immer ganz persönliche – Auseinandersetzung mit der Frage, was "normal" und "akzeptiert" ist und wie man es mit dem Rechtsstaat hält. Es ist das Verdienst von Benno Kirsch, dieses Beispiel eindrucksvoll und nachvollziehbar sichtbar gemacht zu haben. Und es liegt nahe, den → geschärften Blick für die Grundlagen des eigenen Urteils auch auf aktuelles Zeitgeschehen zu richten.

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*   Die beiden MEMO-Studien sind verfügbar bei der → Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft



30. April 2019

Was vom Reisen übrig bleibt

Ein Klassiker der Reiseliteratur zwischen den Weltkriegen


Eine Buchbesprechung zu:
Evelyn Waugh, Expeditionen eines englischen Gentleman
Diogenes, ISBN 978-3-257-07026-2

Die Lust an der Provokation war ein Wesenszug von Evelyn Waugh. Er stand kurz vor seinem 27. Geburtstag, als er im Oktober 1930 zu einer Reise durch Afrika aufbrach, die bis März 1931 dauerte. Seine Beobachtungen und Erlebnisse schildert er in "Remote People", erschienen Ende 1931, und sind erst seit wenigen Jahren auf deutsch verfügbar. Sie sind auch heute, neunzig Jahre später, sehr lesenswert, weil sie unmittelbaren Einblick geben in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, in einen Teil des Britischen Weltreichs, und weil der Autor mit seiner glasklaren, schnörkellosen Schilderung eine haftenbleibende Prosa hinterlassen hat.

Dass die geschilderten Beobachtungen von Land und Leuten nicht in unvordenklichen Zeiten erfolgten, zeigt etwa die aus einem Gespräch in Aden berichtete Erwähnung der "niedlichen Prinzessin" in England, die heute noch lebt: wir kennen sie als amtierende Königin Elisabeth II.
Der Reiseroman hat zwei Teile: Im ersten Teil berichtet Evelyn Waugh von seiner Reise nach Abessinien zur Krönung des Kaisers Haile Selassie im noch jungen Addis Abeba - und damit aus einem Land, dass nie Kolonie war; im zweiten Teil schildert der Autor seine anschließende Reise über Aden, Sansibar, Kenia, Uganda, Tansania und Kongo nach Kapstadt - und somit durch jenen Teil des afrikanischen Kontinents, der - mit Ausnahme des Kongo - zum Britischen Weltreich gehörte. Erst 1922 hatte das Empire seine größte Ausdehnung erreicht, als die Kolonialpolitik längst im Umbruch war.

Cover "Expeditioneneines englischen Gentleman"
1930/31 war das britische Empire noch mehr als bloß existent, erfuhr aber bereits eine Änderung seines imperialistischen Charakters. Evelyn Waugh zeichnet in seinem Reiseroman Figuren vor Ort, die das Bild vom britischen Imperialismus geprägt haben. Er zeichnet auch ein bekannt anmutendes Bild von einem Teil der Welt, in dem sich Juden, Christen, arabische und asiatische Moslems und nicht zuletzt Animisten gar nicht aus dem Weg gehen können.
Der Wandel der Sichtweisen der verschiedenen Beteiligten auf den Kolonialismus wird ein Stück weit erkennbar, obwohl der Eindruck überwiegt, dass der Autor politische Wertungen zu vermeiden sucht. Er sieht Politik zutreffend nicht als exakte Wissenschaft und zieht es vor, unmittelbare Eindrücke zu schildern. Hierzu bedient sich der  Menschen-Beobachter Waugh glasklarer Sätze und der Zuspitzung beobachteter Widersprüche, teilweise mit beißendem Spott und ätzendem Humor. Das führt dann zu ungeschliffenen literarischen Rohdiamanten wie diesem: "Die kenianischen Siedler sind keine Spinner jener Art, die Neu-England kolonosiert haben, auch keine Verbrecher und Ganoven der Art, die nach Australien ausgewandert sind."

Drei Albträume beschreibt der Autor in seinem Buch, die das Reisen mit sich zu bringen scheint: Zum Ende des ersten Teils seiner Afrikareise, in Äthiopien, muss er geraume Zeit mit Warten verbringen - sein hartnäckiger Gegner ist die kurzweilig beschriebene Langeweile. Der zweite Albtraum besteht im Warten unter wechselnden, widrigen Bedingungen in Tansania und die Ungewissheit seiner Reisepläne im Kongo, deren drastische Schilderung den Leser darin bestärkt, die Grenze zwischen Tourismus und Reisen gut zu überdenken. Der dritte Albtraum schließlich plagt den Heimkehrer: nach der Rückkehr nach London besucht der Autor ein dort neuerdings angesagtes Lokal, das er als heiß und laut erlebt und in dem er wenig Gastfreundschaft erfährt - man sehe nur, so sein bissiges Resumee, wie London den schwarzen Kontinent in die Tasche steckt.

In einer unscheinbaren Fußnote teilt der Autor die Kosten seiner Reise mit, die in sechs Monaten knapp 500 Pfund verschlungen hat, "einschließlich verschiedener Einkäufe von Tropenkleidung, lokalen Kunstwerken usw. sowie aller Verluste bei Karten- und Glücksspiel". 500 Pfund Sterling entsprachen damals - kurz vor der Abschaffung des Goldstandards in Großbritannien im Oktober 1931 - stolzen 10.000 Reichsmark, was heute ungefähr 40.000 Euro entspricht. Eine Luxusreise war es dennoch nicht, und der Reisebericht zeigt anschaulich, was den Reisenden vom Touristen unterscheidet.

Das Buch ist  mit einem Anhang ausgestattet, bestehend aus einem Nachwort von Rainer Wieland ("Glücklichere Menschen beobachten Vögel"), das Aufschluss über den Lebensweg und das literarische Schaffen von Evelyn Waugh gibt, sowie einer Zeittafel.

11. März 2019

In Szene gesetzt: Wie Worte Sinn machen

Oder: Wie muss ich sein, um einen Millionär zu angeln?


Eine Buchbesprechung zu:
Thomas Stölzel, Zur Sprache gebracht. Aufzeichnungen, Notate und eine historische Phantasie
Königshausen & Neumann, ISBN 978-3-8260-6487-6

Was machen wir mit der Sprache – und was macht sie mit uns? Diesen Fragen geht der Autor Thomas Stölzel in sieben Kapiteln nach, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Das geht problemlos, weil es sich bei dem Buch weder um eine geschlossene Erzählung noch um ein wissenschaftliches Werk handelt, bei dem das Verständnis der hinteren Kapitel die Lektüre der vorderen voraussetzt. Vielmehr kann jedes Kapitel je für sich betrachtet werden und als Ausgangspunkt für Erkundungen unserer Welt, die eine Welt der Sprache ist, dienen.

Ich bin "normal" von vorne nach hinten durchgegangen - und schlage interessierten Lesern eine andere Reihenfolge vor: Beginnen mit dem letzten Kapitel (Jeux de Maximes, ab Seite 231) und anschließend mit dem ersten und den nachfolgenden Kapiteln weiter forschen. Es ergibt sich dann folgende Reihenfolge:
  • Jeux de Maximes (ab Seite 231) setzt die Entstehung des ersten Skelett-Buchs in Szene (dazu sogleich);
  • Ins Bild gebracht (ab Seite 9) behandelt Höhlenmalerei als eine der ersten Ausdrucksformen des Homo sapiens sapiens;
  • Blitze und Tropfen (ab Seite 63) gibt ein Beispiel für ein wirkmächtiges Wortbild;
  • Eine Frage der Gattung (ab Seite 69) zeigt Potentiale von Aphorismen auf;
  • Federlesen (ab Seite 75) berichtet von kleinen und großen, anekdotischen und historischen, hellen und dunklen Spracherlebnissen;
  • "Falsch" erscheint als "Richtig" (ab Seite 137) weist plastisch auf unsere kognitiven Grenzen hin;
  • Das sprachmächtige Tier (ab Seite 173) eröffnet Blicke auf das, worum niemand auf Dauer herumkommt: Wie man etwas zur Sprache bringt.
Cover "Zur Sprache gebracht"
Im Kapitel Jeux de Maximes erzählt der Autor von der Entstehung der ersten literarischen Sammlung von Aphorismen, veröffentlicht von François de La Rochefoucauld im Jahr 1664. Skizziert wird der Hintergrund, vor dem La Rochefoucauld seine eng mit den politischen Wirren seiner Zeit verknüpften Lebenserfahrungen sammelt und sie später zu Denktelegrammen verdichtet. Das Verdichten ist verbunden mit der dialogischen Kultur adeliger Salons jener Zeit, in denen exklusiv geladene Gäste verbal brillieren: Sprache und Wortwechsel stehen im Zentrum, Worte sind wichtiger als Taten, sie bilden selbst die Handlung. In szenischer Darstellung, die wie ein Drehbuch anmutet, wird aufgeführt, wie La Rochefoucauld die Potentiale seine skelettartigen Prosa kurz vor ihrer Publikation an einem ausgewählten Kreis von sprachmächtigen Zeitgenossen erprobt.

Die in jenem Kapitel im Zentrum stehenden Aphorismen lassen sich vielleicht als Königsklasse der Sprache und ihrer Möglichkeiten bezeichnen: Ein Aphorismus - so wird Marie von Ebner-Eschenbach zitiert - ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette. So kann man das vom Ergebnis her beschreiben. Von der Entstehung her lässt es sich so darstellen: Der systematische Geist kristallisiert, der assoziierende setzt Trauben an. Der eine trennt, der andere verzweigt (Ernst Jünger).

Es ist ein weiter Weg bis zu diesem Reifegrad der Entfaltung von Potentialen der Sprache, und auf diese (Zeit-)Reise der Menschheit und jedes individuellen Menschen nimmt uns der Autor in den ersten sechs Kapiteln seines nicht sprachwissenschaftlichen, sondern fragmentarischen und die Skepsis und den Humor anregenden Buches mit. Hier meine Perlenschnur mit einigen Fragmenten:

--- Es gibt keine Situation, keine Lebenslage ohne Worte. --- Empfindungen, Gefühle, Gedanken sind unauflöslich mit ihrem sprachlichen Ausdruck verbunden. --- Gibt es ein Denken jenseits der Sprache? --- Das besondere Medium, das die Sprache darstellt: Sie erschließt uns die Welt; sie verstellt uns die Welt, wenn wir nicht achtsam sind. --- Eine Sprache verstehen bedeutet, eine bestimmte Lebensform zu verstehen und sich in ihr bewegen können (dann kann man den Traum vom Millionär als gute Partie verkaufsfördernd enttäuschen) --- Wer nicht nur dahinplappert und Wörter aneinander reiht, sondern wegen seiner Rolle im gesellschaftlichen Leben seine Worte wägt und sorgsam wählt, schärft im Laufe der Zeit den Blick für die Bedeutungszusammenhänge der Worte. --- Eigenständig einer Sprachgemeinschaft angehören - und deren Wortgrenzen erweitern (und das in einer Zeit der Political Correctness!) --- Ich atme in der Sprache. Ihr Wort und Rhythmus machen mein innerstes Dasein aus (Jakob Wassermann; eine besondere Herausforderung für Sprechberufe). ---

Der fragmentarische Charakter dieses erlesenen Sprachbuches ist für die Leser ein unscheinbar wirkendes und doch üppiges Geschenk, denn ein dahinplätschernder Lesefluss kommt gar nicht erst auf; der ständig stolpernde Gang beim Lesen bietet stets Anlass, uns selbst beim alltäglichen Gebrauch unserer Sprache zuzuschauen. Das unterscheidet sich diametral vom omnipräsenten, hastigen Dampfplaudern per Mausklick, mit dem jeder sofort zum Kern einer Mitteilung will. Wer den Leser mit verschiedenen Seiten und Perspektiven einer Geschichte umstellt, wirkt umständlich. Man drängt auf Geschwindigkeit; für die verstümmelte Darbietung von Emotionen gibt es Emoijs, die anmuten wie digitale Höhlenmalerei. Thomas Stölzels Buch ist ein Steinbruch mit einer unerschöpflichen Auswahl an Denk-Malen, an denen die fantastische Reise des sprachmächtigen homo sapiens sapiens besichtigt werden kann.

6. Januar 2019

Vom Genie zum Totalverweigerer - Das Scheitern der Sidis-Methode

Eine Buchbesprechung zu:
Klaus Cäsar Zehrer, Das Genie
Diogenes, ISBN 978-3-257-06998-3

Vor gut einhundert Jahren, im Jahr 1910 wurde das vermutlich größte Genie aller Zeiten gefeiert: Im zarten Alter von 11 Jahren hatte William James Sidis vor dem Mathematischen Klub der Harvard University einen Vortrag über vierdimensionale Körper gehalten. Das hatte Folgen für den jungen Billy Sidis: fortan wurde er von den Medien – und das war damals nur die Presse – als Wunderkind mit einem geschätzten IQ von 250 bis 300 gefeiert und nachfolgend begleitet, um nicht zu sagen verfolgt. Daraus entwickelte sich für den Rest seines Lebens eine tiefe Abneigung des William Sidis gegen Journalisten, und wenn er damals nicht in den USA, sondern in Deutschland gelebt hätte und ihm die zeitgenössischen Schriften von Karl Kraus bekannt gewesen wären, hätte er wohl von → Journaille statt Journalisten gesprochen. Desaströs war nicht nur das Verhältnis von Billy Sidis zur Presse; als gescheitert schildert der Autor das ganze, eher kurze Leben des William Sidis, der 1944 im Alter von 46 Jahren gestorben ist – und damit noch die Lebensspanne seines Vaters Boris Sidis, der mit 56 Jahren auch für damalige Verhältnisse nicht alt geworden ist, noch unterboten hat.

Cover "Das Genie"
Die Erzählung des grotesken Lebensweges von Billy Sidis setzt ein mit der Ankunft seines aus der Ukraine stammenden Vaters Boris Sidis in New York im Jahr 1886. Im 150 Seiten umfassenden ersten Teil des in drei Teile gegliederten Romans wird zunächst der Weg des Boris Sidis aus dem Immigranten-Prekariat zum anerkannten Wissenschaftler facettenreich illustriert, und schon hier werden charakterliche Eigenschaften deutlich, die der 1898 geborene Sohn noch ausgeprägter leben wird. Die Prägung seines Sohnes Billy geht wesentlich zurück auf die vom Vater entwickelte und nach ihm benannte → Sidis-Methode, deren Praktizierung am eigenen Sohn als Versuchskaninchen durch Boris Sidis im Zweiten Teil (ab Seite 151) anschaulich wird, bis hin zum Auftritt des bedauernswerten Wunderkindes in seiner Schulzeit. Sichtbar wird auch ein zwanzigstes Jahrhundert, das in einem Wissenschaftler eher einen Techniker als einen Philosophen sah.

William Sidis reagiert mit 16 Jahren mit dem Entschluss, ein perfektes Leben zu führen – und wird in der Konsequenz seiner Weltsicht nicht nur zum überspannten Einzelgänger, sondern - über die militärpolitische Bedeutung des Wortes hinaus – zum Totalverweigerer im weitesten Sinne. "Sein bizarrer Blick auf die Welt, seine spektakuläre Verkrampftheit, seine urkomische Humorlosigkeit, seine rührende Unbeholfenheit in alltagspraktischen Dingen, seine Ahnungslosigkeit von den gewöhnlichsten und seine Begeisterung für die abwegigsten Themen, all das konnte einen auf die Palme bringen, man konnte es aber auch, etwas Übung und guten Willen vorausgesetzt, bestaunen wie ein Koriositätenkabinett" (Seite 325 f.).

Wie ein Kuriositätenkabinett erscheint die ganze Geschichte von Vater und Sohn, die der Autor auf rd. 650 Seiten entfaltet. Trotz des Umfangs liest sich das Buch Dank der flüssigen und humorvollen Darstellung sehr flott, und die Faszination des Stoffs wird kaum getrübt durch den Eindruck, dass manche Beschreibung von Sidis senior und Sidis junior wie eine Zuschreibung autistischer Züge wirkt, was aber als Ausmalung einer historischen Figur durch einen Romancier durchgeht und angesichts des Genies von Vater und Sohn, die beide Dutzende von Sprachen mühelos erlernten und beherrschten, irgendwie beruhigend wirkt. Nebenbei erfährt man einiges über die Zustände im russischen Zarenreich, über wissenschaftliche Grabenkämpfe, frühe Formen der Wellness-Industrie und Gründe für das frühe Sterben des Straßenbahnwesens in den USA.

1. Januar 2019

Brexit: Wird Europa den Briten noch dankbar sein?

Eine Buchbesprechung zu:
Jochen Buchsteiner, Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie
Rowohlt, ISBN 978-3-498-00688-4

Kein geringerer als "Mister Europa", der ehemalige ARD-Korrespondent in Brüssel Rolf-Dieter Krause, sagte ein Jahr nach seinem Wechsel in den Ruhestand: "Der Zustand Europas hätte nicht so werden müssen, wie er ist.” Er sieht also ein Defizit der Verfassung (= Befindlichkeit, Konstitution, Stimmung, Zustand) der Europäischen Union (EU), und dies hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Bundespräsident Roman Herzog bereits drei Jahre zuvor auch getan, in seinem 2014 erschienen Buch "Europa neu erfinden - Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie". Herzog schreibt dort, dass die EU in den Jahrzehnten ihres Bestehens mehrfach ihre Funktionen verändert habe, wodurch sich auch ihre Organisation und Willensbildung gewandelt habe. Heute, so Herzog, erwarteten die Unionsbürger von der EU vor allem zwei Leistungen: den Erhalt des mittlerweile erreichten Wohlstandes und ein kraftvolles Auftreten der EU in der sich neu organisierenden Welt.

In seinem hier vorliegenden Buch schildert Jochen Buchsteiner sehr klar und nachvollziehbar, warum die Briten mehrheitlich nicht mehr darauf vertrauen, dass die EU diesen gestellten Aufgaben gewachsen ist. Der Autor zieht aus seiner Untersuchung den Schluss, dass die Briten in der EU geblieben wären und die Schweizer und Norweger schon lange dabei wären, wenn die EU an Stelle einer "immer engeren Union" auf intergouvernementale Zusammenarbeit gesetzt hätte. Es könnte, so Buchsteiner, den Anführern der Union zu denken geben, dass sich diese reifen und selbstbewussten Demokratien vom Brüsseler Modell abgeschreckt fühlten (Seite 124).

Buchsteiner entfaltet seine Darlegung in drei Kapiteln:

  • Kapitel I (Der missverstandene Brexit, Seite 9 ff.) erläutert die den jeweiligen Beteiligten zugeschriebenen Motive ihrer Positionen und die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite; 
  • Kapitel II (Wurzeln des Andersseins, Seite 53 ff.) schildert in einem historischen Blick auf Britannien, wie es um das Selbstverständnis der Briten bestellt ist, wie es sich von den Kontinentaleuropäern unterscheidet und warum die Briten als Erste ihre EU-Mitgliedschaft aufkündigen;
  • Kapitel III (Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie, Seite 97 ff.), dessen Überschrift dem Buchtitel entspricht, behandelt die politischen Chancen bzw. Risiken des Brexit für alle Seiten - und damit auch die für Kontinentaleuropa entscheidende Frage, ob der bisherige Integrationskurs ("immer engere Union") beibehalten werden kann.

Cover "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie"
Obwohl die EU-kritische Position des Autors unverkennbar ist, zeichnet sein Buch die Gründe, die überhaupt erst zur Diskussion eines Austritts und sodann im Sommer 2016 zum Abstimmungssieg der Brexiteers über die Remainers geführt haben, sorgfältig und ausgewogen nach. Seine profunden Kenntnisse über den bisherigen Diskurs in Deutschland, Britannien, Europa und der Welt und die damit in Zusammenhang stehenden nationalen und globalen Entwicklungen tragen entscheidend zur Sichtung des Klärungsbedarfs bei. Dabei gelingt es Buchsteiner, seine sehr prägnanten Ausführungen nicht nur mit nachvollziehbaren Quellen zu flankieren, sondern auch mit anekdotischen Beispielen zu veranschaulichen.

Auf dieser Grundlage schälen sich gute Argumente für den notwendigen (= die Not wendenden) Diskurs über den weiteren Weg der EU und Korrekturen ihrer Arbeitsweise und Ziele heraus. Es wird deutlich, dass der Brexit exemplarisch den Klärungsbedarf der EU aufzeigt: Kann - über das ursprüngliche Ziel der Sicherung von Frieden und Wohlstand hinaus - an der Vision einer "besseren Welt" und der Überwindung von Grenzen und Nationen festgehalten werden, oder muss diese Vision heute als gescheitert bezeichnet werden?

Buchsteiner schließt seine Darlegung mit dem - in manchen Augen wohl ketzerisch anmutenden - Gedanken, dass die Kontinentaleuropäer den Briten am Ende noch dankbar sein könnten; der Brexit könne als heilsamer Schock verstanden werden für die Klärung der Frage, wie die Europäer ihren Platz finden in einer Welt, die immer weniger europäisch wird. Wenn, so der Autor, die EU den richtigen Weg einschlüge, mussten die Briten ja vielleicht gehen, um eines Tages richtig zu Europa dazuzugehören.

Auch wer die Wertungen des Autors letztlich nicht teilt, wird in seinem Werk eine sehr klare Darstellung der mit dem Brexit aufgeworfenen strategischen Fragen und ihrer Hintergründe finden. Zudem ist der mit knapp 140 Seiten überschaubare Lesestoff sehr flüssig lesbar - die Lektüre ist daher uneingeschränkt zu empfehlen.