25. November 2018

Ultra-Buch statt Ultrabook – Unbegrenzte Möglichkeiten

Eine Buchbesprechung zu:
Thomas Stölzel, Aus den Notizbüchern eines Menschenforschers, Prosa
Rimbaud, ISBN 978-3-89086-335-1

Es soll hier nicht um digitale Technik gehen, sondern um Techniken der seelischen Erforschung des Menschen. Zur digitalen Technik nur ein prosaischer Satz: Ultrabook ist ein Warenzeichen für besonders dünne und leichte Notebooks eines bekannten Herstellers mit bestimmten Prozessoren.

Cover "Aus den Notizen eines Menschenforschers"
Dünn und leicht ist das vorliegende Büchlein auch, aber nur physisch. Metaphysisch eröffnet es seinen erkundungsfreudigen Lesern, die ihm zahlreich zu wünschen sind, alle Möglichkeiten – und wird damit zum Ultra-Buch: Mehr Buch auf weniger Papier geht kaum. "Aus den Notizbüchern eines Menschenforschers" kommt nahezu minimalistisch daher; es gibt keinen Klappentext, kein Vorwort oder Nachwort, kein Inhaltsverzeichnis, keine Überschriften der vier Kapitel außer römischen Zahlen. Immerhin weist eine auf dem Umschlag des Büchleins befindliche Abbildung der vom Autor angefertigten Collage "Im Mahlstrom II" auf mögliche Folgen der Lektüre hin: Enthalten sind schier endlose Anknüpfungspunkte für die eigene Assoziation und Selbsterkenntnis oder Mitmenschenerkenntnis, angeboten in über dreihundert Notizen aus dem prallen Leben.
Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen in Versform liegt mit den Notizen keine Lyrik, sondern Prosa vor. Ein Roman, die heutzutage übliche Form der Prosa, ist das Werk selbstredend nicht, wohl aber ein Baukasten zum Selbsterzählen ("Angenommen, die Seele sei ein Zimmer, ..." Seite 49). Zudem bilden die Notizen für Leser, die vom In-sich-hineinspüren wissen, womöglich Fragmente eines Entwicklungsromans, denn "beschreibt ein Beschreibender durch seine Beschreibung nicht mehr sich selbst als das, was er beschreibt?" (Seite 88).

So erscheinen die Notizen als das, was das Umschlagbild zeigt: als Collage über Wahrnehmungen, Nachdenken und Schreiben. Auf die Form der Textcollage weist auch der Vorspruch „Manuskriptblätter, in die Luft geworfen“ hin. Gleichwohl – oder gerade deswegen – konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, den römischen Nummern der vier Kapitel des Werkes ordnende Überschriften beizugeben: I. Aphorismen über Aphorismen; II. Erfundene und gefundene Wirklichkeit; III. Vom Wahrnehmen, Nachdenken und Schreiben oder Vom Lebensgefühl des Menschenforschers; IV. Forschungsbefunde und -wege. Auch das ist nur eine Frage der Wahrnehmung …

Was macht man mit so einem Buch? Es einfach von vorne bis hinten lesen und dann ins Regal stellen hieße, seine Schätze nicht zu heben. Die "Assoziationsschleifen um den Reiz, den das Gelesene auslöst" (Seite 48), können auf eine enorme Bandbreite der Notizen zurückgreifen, die sich als Liste mit Beobachtungen über menschliche Verhaltensweisen entpuppt. Jeder Leser, jeder Mensch hat Geschichten in sich zu erzählen - wenn sein Leben ein Buch wäre, wie würde sein Titel lauten? Der Menschenforscher erscheint als Möglichkeitsforscher. Mich erinnerte das Nachdenken über Thomas Stölzels Notizen mitunter an die Übungen in seinen wertvollen Büchern über die philosophischen Kompetenzen und Potenziale. Und man muss sich nicht darauf beschränken, alle Notizen für sich erklären zu können; man darf sich aufs Staunen erweitern.

2. November 2018

Ewige Jugend

Wie man Zeit gut lebt statt sie zu bekämpfen


Eine Buchbesprechung zu:
Simone Stölzel, Der Tod in Potenzen, Philosophischer Roman,
Verlag Karl Alber, ISBN (Buch) 978-3-495-48977-2, ISBN (E-Book) 978-3-495-81499-4

Fangen wir mit dem weniger Unangenehmen an: Bei "Potenzen" denken wohl die meisten Leser an frühere Mathematik-Stunden in der Schule. Im Titel des philosophischen Romans von Simone Stölzel verweisen die Potenzen aber auf ein anderes Fach: Der etwas unscheinbar gestaltete Buchumschlag zeigt im Fokus eine Reihe halbgefüllter Erlenmeyerkolben, die wie die bekannteren Reagenzgläser zur Ausstattung von Laboratorien gehören. Es geht also nicht um Zahlen, sondern um die Eigenschaften von Stoffen und ihre Reaktionen. Die sind Gegenstand von Chemie und Pharmakologie - aber auch der Homöopathie, die mit ihrem Ähnlichkeitsprinzip ein anderes Heilungskonzept verfolgt als die Gegenmittel der Schulmedizin.

Cover "Der Tod in Potenzen"
All dies weiß der Privatdetektiv Walter Hertz nur in groben Zügen, als er mit der Suche nach dem verschwundenen Homöopathen Dr. Simon Geiger beauftragt wird. Dessen Tod wird befürchtet, und der Fall wird einer der interessantesten Aufträge von Walter Hertz, der ihn mit ungewohnten Fragen konfrontiert - auch mit seiner Vergangenheit als Student. Hertz hatte sein Studium der Philosphie nicht vollendet, sondern gewissermaßen durch das Studium seiner Mitmenschen fortgesetzt. Beides - der Suchauftrag und das Philosophiestudium - lebt von der Neugier, für den Detektiv als Berufsgrundlage, für den skeptischen Zeitgenossen, der nichts auf sich beruhen lassen will, als ständiger Begleiter beim Untersuchen der Menschen und der Dinge. Hertz untersucht die Menschen wie seine Fälle, und seine gründliche Recherche führt ihn immer wieder zum Wesen der Zeit und zur Vergänglichkeit. Er muss einiges einstecken, begegnet einer alten und einer neuen Liebe, einem alt gewordenen, aber fragend gebliebenen Besitzer ganzer Bücherwände und einem fast vergessenen Freund. Und am Ende glaubt Walter Hertz zu wissen, wie Dr. Simon Geiger verschwunden ist.

Wo und wann sich all dies zuträgt, lässt die Erzählung weitgehend offen. Das Rätsel trägt sich zu in einer nicht identifizierbaren größeren Stadt in Deutschland, in der mit D-Mark gezahlt wird und Telefonzellen mit Telefonbüchern noch üblich zu sein scheinen. Smartphones und das Internet kommen nicht vor, und zum täglichen Handwerkszeug des Protagonisten gehören sein analoger Anrufbeantworter und - weit zukunftsträchtiger - sein Fahrrad. Immerhin gibt es schon Überwachungskameras, und ein einziges Mal spielt ein Computer-Chip eine kleine Rolle. Dieser fast zeitlose Rahmen passt vorzüglich zum Wesen der Zeit, dem heimlichen Helden dieses philosophischen Romans, der sich wie ein Krimi liest, aber keiner ist. Oder doch? Gut erzählte Krimis sind Geschichten, bei denen man an der Beobachtung von Menschen teilnehmen kann. "Der Tod in Potenzen" ist spannend, unterhaltsam und wahrnehmungsschärfend - ein Lesespaß und Pageturner, der obendrein mit völliger Abstinenz von Schreibfehlern gefällt.

4. April 2018

Let IT Go - Loslassen, Startup, Loslassen

Eine Buchbesprechung zu:
Dame Stephanie Shirley, Richard Askwith: Let IT Go – The Memoirs of Dame Stephanie Shirley
Andrews UK Limited, ISBN 978-1-78234-282-3


Der Titel "Let IT go" ist ein Wortspiel: Im Zentrum steht die Informationstechnologie (IT), aber der rote Faden der in englischer Sprache verfügbaren Autobiografie von Stephanie Shirley ist das Loslassen (let it go). Der Autobiografin blieb auch nichts anderes übrig. Loslassen lernen, loslassen können – das ist die Klammer der drei Themen, die die Vita der Autobiografin prägen:
  • Die Trennung von der Heimat und das Ankommen in der Fremde;
  • Ein Startup in den 1960er Jahren, als Computer und Informatik in unserer Gesellschaft noch nicht allgegenwärtig waren (aber bereits unumkehrbar auf dem Vormarsch);
  • Ein besonderes Kind und der Umgang damit.

Cover "Let IT Go"
Vera Stephanie Buchthal war fünf Jahre alt, als sie und ihre neunjährige Schwester im Sommer 1939 von den Eltern mit einem Kindertransport von Wien nach England ins Exil geschickt wurden. Die Entfremdung des Flüchtlingskindes von den eigenen Eltern war eine der harten Folgen, die Stephanie Shirley in ihrer Autobiografie beschreibt. Sie erzählt auch, wie sie im Laufe der Jahre in England angekommen ist, im Alter von 18 Jahren die britische Staatsbürgerschaft angenommen und ihren Namen in Stephanie Brook geändert hat.

Stephanie Shirley berichtet von ihren Erlebnissen in einer Männerwelt, beginnend mit ihrer Zulassung zum Mathematikunterricht als einziges Mädchen in einer Jungenschule, später gefolgt von einer Anstellung bei der Royal Mail (Post). Dort entwickelte sie Software in der Abteilung für Statistik, lernte die gläserne Decke kennen – und machte sich 1962 mit ihrer eigenen Softwarefirma F. International selbständig. Die Schilderung der Entwicklung des Unternehmens vom Startup (wie wir das heute nennen) zu einer gefragten Consulting-Gruppe ist ein Stück spannende Wirtschaftsgeschichte, auch um Genderpolitik, Homeoffice, Mitarbeiterbeteiligung, Digitalisierung und Irrtümern und Missgunst im harten wirtschaftlichen Wettbewerb.

Ein anderer - und erkennbar schmerzhafter – Erzählstrang ist die Geschichte des Sohns von Stephanie und Derek Shirley, bei dem Autismus diagnostiziert worden war. Der Umgang mit den daraus folgenden Belastungen für das Ehepaar steht ebenfalls im Zentrum der Darstellung, vor allem die erheblichen finanziellen und organisatorischen Anstrengungen zur Verbesserung der Lage des Sohns und ihre Auswirkungen auf den Alltag. Daraus entwickelt sich neben einschneidenden Krisen auch ein nachhaltiges Kümmern um wohltätige Einrichtigungen. Als Stephanie Shirley im Jahr 2007 durch den Verkauf ihrer Unternehmensanteile zur drittreichsten Frau Großbrittanniens wurde, wird der Einsatz eines Großteils ihres Vermögens für wohltätige Zwecke zum neuen und bestimmenden Lebenswerk der Autobiografin.

Mich wundert, dass das sehr lesenswerte und bereits 2012 erschienene Buch nicht auf Deutsch verfügbar ist. Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichte der Unternehmerin und ihres Startups zwangsläufig auch Phasen des Scheiterns enthält – das Scheitern wird hierzulande meist als Schlusspunkt behandelt, nicht als Zwischenschritt. Und vielleicht liegt es auch daran, dass die Geschichte des Flüchtlingskindes von einer Integration im Gastland erzählt, die maßgeblich auf eigener Tatkraft beruht.