11. Juli 2021

Heimat im Rückspiegel

Eine Buchbetrachtung zu:
Michael Asderis, Das Tor zur Glückseligkeit
Migration, Heimat, Vertreibung – die Geschichte einer Istanbuler Familie
binooki/neukirchener, ISBN/EAN: 9783943562620

Im Mai 1987 fuhr Michael Asderis, damals 36 Jahre alt, auf der Autobahn von Frankfurt am Main nach Darmstadt. Sein Blick nach vorn galt dem Regierungspräsidium Darmstadt und seiner dort anstehenden Einbürgerung, sein Blick zurück der früheren Heimat in Istanbul, begründet mehr als drei Generationen zuvor von seinen Vorfahren aus Italien und Griechenland. In Asderis' Rückblick, in dem er das Schicksal seiner Familie bis zur Vertreibung aus der Republik Türkei im Jahr 1964 erkundet, zeigen sich viele Erlebnisse und Begegnungen, die Heimat ausmachen, darunter selbstlose Hilfe von Zeitgenossen der Familie des Autors, natürlich auch – wie er mehrfach schildert – von türkischstämmigen Nachbarn und Mitbürgern. Er zeigt aber eben auch jene letztlich entscheidenden Akte politischer Willkür und bitteren Enttäuschungen, in deren Folge der Familie am Ende nichts anderes übrig blieb, als Istanbul, wie die Stadt längst auch offiziell hieß, für immer zu verlassen. 

Cover "Das Tor zur Glücksseligkeit"
Konstantinopel war der Name aus alt-griechischer und römischer Zeit, von Armeniern und Griechen noch heute verwendet. Osmanisch wurde sie oft Der-i Saadet genannt: Pforte der Glückseligkeit. Davon – vom Tor zur Glückseligkeit, von Durchlässigkeit auf dem Weg zu einem gesegneten Leben – war ein halbes Jahrhundert nach Ende des Ersten Weltkrieges nichts mehr zu spüren, jedenfalls nicht für die nichttürkische Bevölkerung der Stadt. Und so erscheint der Blick auf die alte Heimat wie ein Blick in einen zersprungenen Rückspiegel. Eben dies deutet die grafische Gestaltung des Bucheinbands durch → Alexander Rübsam an, aber auch die im Zuge der türkischen Vertreibungspolitik bei Pogromen gegen Armenier, Griechen und andere Minderheiten zerstörten Geschäfte und Häuser, die zahlreichen Opfer an Leib und Leben nicht zu vergessen.

Über vier Generationen lebte die Familie des Autors in Konstantinopel, etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre. In jene Zeit fällt der → Niedergang des Osmanischen Reiches mit seinem das Nebeneinanderleben leidlich regelnden muslimischen → Millet-System, gefolgt von kurzlebigen Versuchen der Angleichung an Verfassungsmodelle des europäischen Westens, sodann der Türkisierung des schwindenden erhabenen Staates und schließlich der Gründung der Republik Türkei vor bald einhundert Jahren am 19. Oktober 1923. Diese Entwicklung war geprägt vom Wechsel der Maßgeblichkeit religiöser Zuordnungen hin zur Maßgeblichkeit der Staatsangehörigkeit, begleitet auch von einer damals verbreiteten Vorstellung, dass Konflikte eher in homogenen als in gemischten Gesellschaften vermieden werden könnten. Der von staatlichen Stellen genutzte und mitunter geschürte Neid von Teilen der muslimischen und anatolischen Bevölkerung auf die wirtschaftlichen Erfolge der nichtmuslimischen Minderheiten im wirtschaftlichen Austausch mit Europa kam hinzu. In die düstere Reihe der Folgen dieses politischen Nährbodens gehören u.a. der Völkermord an den Armeniern 1915/16, dessen → Spuren bis nach Berlin reichten, und das → Pogrom von Istanbul, die sogenannten Septemberereignisse 1955.

Im → Vorsatz des Buches, also auf dem Papier, das den Buchblock vorn und hinten mit den Buchdeckeln verbindet, stellt uns der Autor zwei grafische Darstellungen seines Stammbaums zur Verfügung, vorne die Familie des Vaters, hinten die der Mutter. Diese Stammbäume zeigen die Zuordnung zu Religion (Gregorianisch, Katholisch, Orthodox), Staatsangehörigkeit (Griechisch, Italienisch, Osmanisch/Türkisch) und Ethnie (Armenisch, Bulgarisch, Griechisch, Italienisch) seiner Vorfahren. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Mehrheit der Einwohner Konstantinopels nichtmuslimisch, darunter griechisch-orthodoxe Christen, syrisch-orthodoxe Aramäer, armenische Christen und sephardische Juden – die Familie des Autors war das Normalste der Istanbuler Welt. Sie bilden heute nur noch kleine Minderheiten.

Geschichte wird oft als Wirken einzelner herausgehobener Personen dargestellt, deren Namen wir kennen. Geschichte ist aber auch die zurückliegende Gegenwart der vielen anderen, deren Namen nur ihre nachgeborenen Angehörigen kennen. Der Wirkungskreis dieser vielen Anderen ist neben dem Arbeitsplatz des Broterwerbs die eigene Familie, und dort – egal ob Kern- oder Großfamilie – werden die Fragen des Alltags verhandelt, die von Ereignissen und Geist der Zeit geprägt sind. Das Leben der Familien spiegelt die politische und wirtschaftliche, also soziale Lage, der sie sich im täglichen Leben stellen müssen. Und so kann die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen manches über "die" Geschichte eines Landes oder einer Epoche erzählen, was in Geschichtsbüchern nur zwischen den Zeilen zu lesen ist.

So ein Buch voller Geschichte und Geschichten ist Michael Asderis' Tor zur Glückseligkeit, dass mehr ist als ein "erzählerisches Sachbuch". Die politischen Brüche des Lebens und Wirtschaftslebens in den wirren Zeiten der türkischen Identitätsfindung zwischen Religion und Nation, Europa und Vorderasien, christlicher und muslimischer Welt, Chauvinismus und Offenheit werden in Asderis' historischer Sozialreportage anschaulich. Seine Familie hat mit der Auswanderung nach Deutschland vor einem halben Jahrhundert eine neue Heimat in einer Gesellschaft mit verlässlicher Verfassung gefunden, frei von staatlich befeuerten Ressentiments und Willkür, verbürgt durch das → Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Michael Asderis ist später zum Besucher Istanbuls geworden, um Spuren der Heimat seiner Kindheit zu finden. Sein Fazit ist klar: "Es ist, als ob die Gesellschaft, die ich beschrieben habe, nie existiert hätte."
 
Der Blick auf die Geschichte Europas muss nicht im Osten in Polen und im Südosten bei Wien enden. Das unbedingt lesenswerte Buch ist mit knapp 400 Endnoten, einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Bildnachweisen ausgestattet; ein Großteil der Fotos stammt aus dem Privatarchiv des Autors. Es ist 2018 im → binooki-Verlag erschienen, den es leider → nicht mehr gibt, aber erhältlich über den → Neukirchener Verlag

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen